
Die Entkernung des Gedenkens
Zum 80. Jahrestag der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg, einem Tag an dem viele Menschen in Europa vom Faschismus befreit wurden, nicht jedoch der Teil der Deutschen, die bis zuletzt erbittert Widerstand gegen die Alliierten geleistet haben, wurde auch in Roßlau den Opfern des Zweiten Weltkrieges gedacht.

Die von Eike Geisel gefasste Erkenntnis, dass gerade durch die von ihm so bezeichnete „Wiedergutwerdung der Deutschen“ das Gedenken in Beliebigkeit versinkt, wurde durch die Rede des Roßlauer Ortsbürgermeisters Laurens Nothdurft (AfD) zum 8. Mai am Sowjetischen Ehrenfriedhof in Roßlau geradezu mustergültig bestätigt. Schon die Schwerpunktsetzung seiner Rede – er zählte verschiedene Gruppen der „Deutschen Opfer“ minutiös auf – zeigt die inhaltliche Schieflage. Der Begriff des Lagers, zentral für die deutsche Vernichtungspolitik – die Nothdurft schlicht unterschlug -, tauchte nur in Zusammenhang mit der Vertreibung deutscher Flüchtlinge auf. Die Ursachen dieser Vertreibung hingegen, der deutsche Vernichtungskrieg in Osteuropa und die unzähligen Kriegsverbrechen der Wehrmacht, werden nicht erwähnt. Übrig blieben nur Soldaten, die in „Erfüllung ihrer Pflicht“ gefallen sind.
So ist es heute möglich, dass ein Mann, der in der Vergangenheit zum Führungskreis der 2009 aufgrund ihrer Wesensverwandtschaft mit der Hitlerjugend verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend gehörte, nun in repräsentativer Funktion behaupten darf, es handle sich um „ein Leid, das uns mit den Völkern Europas verbindet“. Das Leid, welches deutsche Soldaten über Europa brachten wird nichteinmal geleugnet, es bleibt schlicht unerwähnt. Umso erfreulicher ist es, dass ein Jugendlicher im folgenden Beitrag die Courage hatte, Herrn Nothdurft mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren. Denn wenn ein Politiker, der dem Führungskreis einer Organisation angehörte, die aufgrund ihrer nationalsozialistischen Gesinnung verboten wurde – wie im Übrigen auch seine Ehefrau, deren Bruder kürzlich öffentlichkeitswirksam die Beteiligung an einer Nachfolgeorganisation der HDJ vorgeworfen wurde – wirkt es wie eine Farce, wenn Herr Nothdurft zunächst von einer „Zäsur in der Geschichte unseres Volkes“ spricht um den „Anfang zu anhaltender Veränderung“ zu betonen.

Wie weit die Entkernung des Gedenkens zum bloßen Ritual vorangeschritten ist unterstreicht ein Kommentar, den Klemens Koschig, ehemals Oberbürgermeister von Dessau-Roßlau, der Mitteldeutschen Zeitung gegenüber geäußert hat: Er sprach davon, dass politische Überzeugungen nicht an diesen Ort gehören. Damit wird das Erinnern zum bloßen Ritual reduziert und schlussendlich jeglichen Inhalts beraubt und Aussagen wie die Folgende möglich:
„Dem Ortsbürgermeister steht das zu. Und der ist eben bei der AfD. Es geht ja um das Gedenken.“
Wem weshalb gedacht wird scheint für viele schlicht keine Rolle zu spielen. Umso schöner ist es, dass es auch weiteren Protest gab: Auch der Stadtrat Jakob-Uwe Weber begleitete die Veranstaltung angemessen still mit obenstehendem Plakat.