Mobiles Beratungsteam in Anhalt bilanzert 1015. Beratungsfall
Was tun, wenn rechtsextreme Akteure die medial vielbeachtete Absage eines Konzertes in einer etablierten Kultureinrichtung für ihre Agenda instrumentalisieren? Wie damit umgehen, wenn drei Schüler in der Nähe einer Schule das Tagebuch der Anne Frank verbrennen und es damit als Meldung in die New York Times schaffen? Was heißt es eigentlich, wenn Mitglieder einer Initiative pro Demokratie aus einer rechtsextremen Motivation heraus blutige Schuhe vor ihrem Privathaus oder Nägel und Schrauben in der Toreinfahrt vorfinden? Was kann unternommen werden, wenn eine Organisation die Einsatzstellen für ein „Freiwilliges Ökologisches Jahr“ anbietet feststellt, dass ein landwirtschaftlicher Einsatzort für Freiwillige von einem rechtsextremen Akteur geleitet wird, der zudem noch einen mutmaßlich illegalen Schießstand betreibt? Solche oder ähnliche Anfragen, wenngleich nicht immer so gravierend, erreichen uns wöchentlich.
Seit das Projekt GegenPart als Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt, zuständig für die Landkreise Anhalt-Bitterfeld und Wittenberg und die Stadt Dessau-Roßlau, am 01. Juni 2007 an den Start ging, haben wir 1.015 Beratungsfälle prozesshaft begleitet (Stand 01. Dezember 2025). Dahinter verbergen sich insgesamt 6.500 erreichte Beratungsnehmende aus Politik, Feuerwehr, Wirtschaft, Schule, Verwaltung, Medien, Religionsgemeinschaften, Sport, Jugendhilfe, Kultur, Vereine/Verbände und selbstredend der engagierten Zivilgesellschaft. Das sind durchschnittlich 4,57 Fälle monatlich mit insgesamt 29,27 zu beratenden Menschen.

Dies sind abstrakte Zahlen die nur bedingt zeigen, wie unser systemischer und gemeinwesenorientierter Ansatz eigentlich funktioniert. In komplexen Fällen ist es nicht damit getan, zwei Telefonate zu führen und unsere Klient:innen einmal aufzusuchen. Gemeinsam mit den Beratungsnehmenden gilt es, tragfähige Strategien zu entwickeln um das jeweilige System, sei es Schule, Verwaltung, ein Verein, eine demokratische Partei oder ein Bündnis, zukünftig zu befähigen, mit rechten Ereignissen routinierter umzugehen. Dazu gehört es, potentielle Unterstützungsnetzwerke auszumachen oder Hintergrundrecherchen umzusetzen. Innerhalb des Prozesses ist es relevant zu wissen, welche rechtsextreme Struktur hier wie wirkt und wie handlungs- und kampagnenfähig diese daherkommt, gerade unter Gesichtspunkten der Gefahrenabwehr.
Unser zentraler Leitfaden sind die schon vor über 15 Jahren gemeinsam mit der Wissenschaft und staatlichen Stellen entwickelten und permanent fortzuschreibenden Qualitätskriterien der Mobilen Beratung. Die entscheidenden Punkte daraus: nichts passiert ohne Zustimmung der Beratungsnehmenden, diese bestimmen Richtung und Taktung und ihre tatsächlichen Ressourcen und Wünsche stehen im Mittelpunkt. Anders ausgedrückt hilft es wenig, wenn wir uns am Schreibtisch Konzepte ausdenken die dann in der Praxis scheitern. Zentral ist hier, das Vorgehen an die jeweils vorherrschende Kultur der Institution anzupassen. Was in einer Schule gut funktioniert, muss es in einem Sportverein noch lange nicht. Das bringt natürlich Herausforderungen mit sich, die hier nicht verschwiegen werden sollen. Unseren Beratungsnehmenden machen wir zu Beginn eines Prozesses klar, dass wir nicht die „Rechtsextremismus-Feuerwehr“ sein können, die gerufen wird und Lösungen bringt. Notwendig ist die Bereitschaft des Systems, sich auf Veränderungen einzulassen. Wir können begleiten, unterstützen, einordnen, vernetzen, moderieren oder systematisieren. Aber ohne unsere Klient:innen geht es nicht. Und wir müssen uns immer wieder bewusst machen, dass wir anders als ein Bürgerbündnis pro Demokratie oder eine Initiative gegen Rechts kein Akteur mit Interventionsanspruch sind, sondern ein Beratungsprojekt. Hier gilt es sich bewusst zurückzunehmen, das fällt nicht immer leicht, ist aber professionell.

Wie erfolgreich sind unsere Beratungen nun eigentlich? Hier können wir nur auf unsere Beratungsnehmenden verweisen. Zwei Drittel spiegeln uns zurück, dass wir ihnen in der konkreten Situation oder auch mittel- und langfristig dabei helfen konnten, die eigene Handlungssicherheit zu stärken. In weiteren 20 Prozent der Fälle können nicht alle in den Zielvereinbarungen besprochenen Beratungsschritte umgesetzt werden, entweder weil der Leidensdruck abgenommen hat oder es auf Seiten der Beratungsnehmenden keine personellen Ressourcen mehr gibt sich damit intensiv zu befassen. Und in nur ca. 14 Prozent bleibt es bei einer Erstanfrage, und es kommen keine weiteren Beratungsschritte zu Stande. Letzteres kann manchmal frustrierend sein aber auch wir wissen, dass unsere Beratung ein Angebot und keine Pflichtveranstaltung ist.
Dass wir immer, auch das ein Qualitätsstandard der Mobilen Beratung, auf eine parteipolitische, weltanschauliche und konfessionelle Unabhängigkeit gesetzt haben, hat sich mehr als bewährt. Entgegen der vielfach kolportierten Behauptung, Demokratieprojekte richteten sich ja nur an ein linksliberales Milieu, haben wir die Erfahrung gemacht, dass auch eher konservativ oder wirtschaftsliberal eingestellte Personen und Strukturen ein Interesse daran haben, sich kritisch mit rechtsextremen Tendenzen auseinanderzusetzen. Selbstredend gehören auch diese zu unserer Beratungszielgruppe. Sich für die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung und damit im Umkehrschluss gegen Autoritarismus einzusetzen, sollte Ansporn für alle sein, ganz gleich ob sie sich selbst konservativ, liberal, ökologisch, „neutral“ oder links verorten.

Trotz einer Normalisierung rechtsextremer Meinungsbilder und dem damit verbundenen Kulturkampf von Rechts, maßgeblich vorangetrieben durch die vom Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt als „gesichert rechtsextreme Bestrebung“ eingestuften AfD, gilt es nicht in einen falschen Alarmismus oder unpassende, historische Vergleiche zu verfallen: Demokratische Strukturen sind heute stabiler als zu Weimarer Zeiten, und im Gegensatz zu den als „Baseballschlägerjahre“ bezeichneten 1990ern existiert heute ein gesteigertes Problembewusstsein bei den verantwortlichen Stellen. Diejenigen, die auf diese Probleme hinweisen, werden nicht mehr als „Nestbeschmutzer“ diskreditiert, vielmehr gibt es nun in weiten Teilen von Politik, Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden, Justiz und Medien eine Grundsensibilisierung gegenüber Rechtsextremismus. Auch gerade deshalb steht es für uns außer Frage, Kontakte zu Politik, Polizei und Justiz zu unterhalten. Dennoch zeigt der Blick in die Vereinigten Staaten, wie volatil demokratische Institutionen sein können und nicht für selbstverständlich gehalten werden dürfen.
Was uns Sorgen bereitet, ist der überbordende Antisemitismus auf Deutschlands Straßen – nicht erst seit dem antisemitischen Angriff vom 07. Oktober 2023. Und dies nicht nur von rechts, der Antisemitismus von links und aus einer islamistischen Motivation heraus ist genauso zu kritisieren. Blicken wir auf Studien zum gesellschaftlichen Klima, wie den kürzlich veröffentlichen Sachsen-Anhalt Monitor, sehen wir uns mit großen gesellschaftlichen Herausforderungen konfrontiert. Auch wenn die beste Beratung selbstredend diejenige wäre, die nicht mehr gebraucht wird, gehen wir davon aus, dass wir spätestens zum 20-jährigen Bestehen des Projektes Gegenpart im Jahr 2027 wohl die Marke von 1200 Beratungsfällen erreichen werden.



