rechtsextreme Delikte und Ereignislagen in der Region Anhalt auf einem Allzeithoch // in Teilen Schulterschluss zwischen dem organisierten Rechtsextremismus und bürgerlichen Klientel zu beobachten
Die registrierten rechtsextremen Delikte, Angriffe und Ereignislagen in der Region Anhalt sind in 2022 überproportional angestiegen. In der Chronik konnten im Gesamtjahr 2022 insgesamt 545 rechte und neonazistische Ereignislagen für Anhalt festgestellt werden, was im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (2021: 409 Einträge) einem Zuwachs um 33,3 % entspricht. Hierbei handelt es sich um ein absolutes Allzeithoch, dass seit Bestehen der Chronik (1999) für ein Jahr registriert werden konnte. Die Corona-Pandemie bot der extremen Rechten ein Handlungs- und Propagandafeld, um das relativ breite Mobilisierungspotential von Initiativen wie Querdenken und deren regionalen Ablegern zu nutzen, eine Art Schulterschluss zwischen dem organisierten Rechtsextremismus und einem bürgerlichen Klientel zu propagieren - wenn gleich mit unterschiedlichen Erfolg.
Beratungsbilanz des Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus
Das MBT Anhalt hat im Berichtszeitraum 2022 (Gesamtjahr) insgesamt 55 Beratungsfälle prozesshaft begleitet, damit wurde ungefähr das Niveau aus dem Vorjahr (2021: 59 Fälle) erreicht.
Quelle/Graphik: Projekt GegenPart
Wie bereits in den vergangenen Jahren, waren die meisten Beratungsprozesse (mit 25 Treffern, entspricht rund 45,5% am Gesamtaufkommen) in Dessau-Roßlau verortet, gefolgt von den Landkreisen Wittenberg (16 Fälle; rund 29% vom Gesamtaufkommen) und Anhalt-Bitterfeld (14 Fälle; rund 25,5% aller Beratungsfälle).
Im Vergleich zum Vorjahr konnten also Beratungsnehmende aus den Kreisen Wittenberg und Anhalt-Bitterfeld wieder besser erreicht werden (geografische Verortung 2021: Dessau 38 Fälle; Wittenberg 11 Fälle; Anhalt-Bitterfeld 10 Fälle).
Quelle/Graphiken: Projekt GegenPart
Schwerpunkte der Beratungsanlässe bildeten in den letzten 12 Monaten mit 12 Treffern (rund 22%) das Segment rechte Ereignisse im öffentlichen Raum, wie Demonstrationen, Kundgebungen und Konzerte; sowie Ereignislagen in Bildungseinrichtungen mit 10 Beratungsfällen (rund 18%).
Quelle/Graphik: Projekt GegenPart
Dicht gefolgt waren Angstzonen/ Bedrohungsszenarien in 9 Fällen (rund 16%), rechte Ereignisse in Vereinen/ Beratung von Initiativen in 8 Fällen (rund 14,5%) und Unterwanderung der Bürgergesellschaft in 7 Fällen (rund 13%), Anlass der Beratung.
In jeweils 3 Beratungsprozessen war der Anlass der Beratungen eine Sachbeschädigung bzw. rechte Propaganda sowie rechte, rassistische, antisemitische und queerfeindliche Gewalt.
Schlussendlich wurden zwei Beratungsfälle im Kontext der Relativierung des historischen Nationalsozialismus durchgeführt, sowie ein Beratungsfall deren Anlass Immobilienbesitz rechter Akteur:innen war.
Die Auswertung der Beratungsprozesse zeigt, dass das MBT Anhalt im abgelaufenen Berichtszeitraum insgesamt 23 Bürger:innenbündnisse/ Initiativen in ganz unterschiedlichen Settings beraten hat.
Wie in den Vorjahren korreliert dies mit der Analyse, dass Organisationen die sich für Demokratie und gegen rechts engagieren, im Fokus von Neonazis stehen und sich immer häufiger rechten Unterwanderungsversuchen ausgesetzt sehen.
Dies gilt auch für Vereine und Verbände (11 Beratungsnehmende), Akteur:innen aus der Kommunalpolitik (10 Beratungsnehmende) und Verwaltungen (5 Beratungsnehmende), welche zudem mit rechten Veranstaltungen im öffentlichen Raum konfrontiert werden.
Rechte Ideologien und Strukturen spiegeln sich ebenso im Bildungs- als auch Privatbereich wider, weshalb unter anderem 7 Einrichtungen aus dem Bereich Bildung und Freizeit sowie 6 Einzelpersonen beraten wurden.
Mutmaßlich mit einer erhöhten gesamtgesellschaftlichen Sensibilisierung gegenüber Ideologien der Ungleichwertigkeit und menschenverachtenden Ereignissen geht einher, dass jeweils 4 Beratungsnehmende aus den Bereichen Kultur und Wirtschaft, Medien sowie Wissenschaft begleitet wurden.
Zudem wurde eine Einrichtung aus dem Bereich Religionsgemeinschaften beraten.
In allen 55 Prozessen zusammengenommen, hat das MBT Anhalt in Persona insgesamt 75 Hauptberatungsnehmer:innen und Klient:innen unterstützt. Dies ist wie in der Vergangenheit vor allem damit zu erklären, dass in den zahlreichen Prozessen mehrere Akteur:innen aus Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung gleichzeitig Hauptberatungsnehmer:innen sein können. Dem gemeinwesenorientierten und systemischen Ansatz der Mobilen Beratung folgend, konnte so rechten Ereignislagen aus einem möglichst breiten Spektrum gesellschaftlicher Institutionen heraus gemeinsam begegnet werden.
Quelle/Graphik: Projekt GegenPart
Chronik des Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus
Die registrierten rechtsextremen Delikte, Angriffe und Ereignislagen in der Region Anhalt sind in 2022 überproportional angestiegen. In der Chronik konnten im Gesamtjahr 2022 insgesamt 545 rechte und neonazistische Ereignislagen für Anhalt festgestellt werden, was im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (2021: 409 Einträge) einem Zuwachs um 33,3 % entspricht.
Hierbei handelt es sich um ein absolutes Allzeithoch, dass seit Bestehen der Chronik (1999) für ein Jahr registriert werden konnte.
Quelle/Graphik: Projekt GegenPart
Von den 545 Meldungen konnten demnach ca. 48,3 % (263 Meldungen) dem Landkreis Anhalt-Bitterfeld zugerechnet werden, gefolgt vom Landkreis Wittenberg (149 Meldungen, entspricht ca. 27,3 %) und der kreisfreien Stadt Dessau-Roßlau (133 Meldungen, entspricht ca. 24,4 %).
Das signifikante Übergewicht im Landkreis Anhalt-Bitterfeld ist auffällig und setzt den Trend aus dem Vorjahr, wenngleich auf einem höheren Niveau, fort. Dieser Landkreis führt quantitativ fast alle Chronikkategorien an.
Quelle/Graphik: Projekt GegenPart
2022 sind in 24 Fällen rechte und rassistische Gewalttaten/ Anschläge/ Raubdelikte öffentlich geworden (Anhalt-Bitterfeld: 12, Dessau-Roßlau: 6, Wittenberg: 6) und damit 60 % mehr als im Vorjahr (2021: 15). Signifikant ist dabei vor allem der enorme Aufwuchs in Anhalt-Bitterfeld, von fünf Delikten (2021) auf 12 dokumentierte Fälle. Da dieser Landkreis auch die Zahlen in den Bereichen Propaganda und Demonstrationen anführt, ist hier ein Zusammenhang im Sinne von Gelegenheitsstrukturen wahrscheinlich.
Im Feld der Ehrverletzungen wie Beleidigung/ Bedrohung/ Nötigung und Verleumdung ist mit 44 Einträgen ein gleichbleibendes hohes Niveau zu konstatieren (2021: 46 Treffer).
Die Zahlen bei rechtsextremen und rechtsoffenen Demonstrationen/ Kundgebungen/ Saalveranstaltungen sind mit 137 regelrecht explodiert und bedeuten im Vergleich zum Vorjahr (62) mehr als eine Verdopplung. Die Demos, zumeist organisiert aus dem verschwörungsoffenen „Querdenken“-Mileu, richteten sich anfänglich noch gegen die staatl. Coronamaßnahmen und instrumentalisierten später fast monothematisch die Sorgen der Menschen rund um Energiekrise und Inflation.
Rechte und neonazistische Propagandadelikte und Sachbeschädigungen sind mit 312 Treffern im Vergleich zu 2021 (256) um fast 22 % angestiegen. Auffällig auch hier Anhalt-Bitterfeld, sind dort doch 160 Meldungen festgestellt und damit mehr als in den anderen beiden Gebietskörperschaften zusammen.
Quelle/Graphik: Projekt GegenPart
Die von der Landesregierung gemeldeten rechtsmotivierten Sachschäden sind im Gesamtjahr 2022 mit € 22.370,00 deutlich angestiegen (2021: € 8.445,00).
Quelle/Graphik: Projekt GegenPart
Der 10-Jahresvergleich bei rechtsextrem motivierten Sachbeschädigungen zeigt, dass die in 2022 festgestellte Summe die 5 höchste ist.
Quelle/Graphik: Projekt GegenPart
Lagebild/ Rechtsextremismus-Monitor für die Region Anhalt
Neonazistische und extrem rechte Personenzusammenschlüsse/ Organisationen
Nach wie vor sind in der Region mehrere neonazistische und extrem rechte Personenzusammenschlüsse in Form von „Kameradschaften“ oder Parteien aktiv. Trotz wiederholter „Auflösungen“ und Neugründungen solcher Strukturen, stehen dahinter oftmals dieselben Akteur:innen, welche auch überregional vernetzt sind. Das „Aktionsspektrum“ reicht dabei von Propagandadelikten über Demonstrationen und Kundgebungen bis hin zu Bedrohungen, Beleidigungen und Gewalt. Diese Strukturen dienen der extrem rechten Szene zur personellen Vernetzung sowie ideologischen Schulung und Sichtbarmachung einer – in Teilen nur begrenzten – Handlungsfähigkeit.
Eine neue Entwicklung stellt dabei das Andocken an verschwörungsideologische Milieus im Umfeld der Corona- und Montagsdemonstrationen dar, im Zuge derer sich extrem rechte Personengruppen als legitime Akteur:innen zu inszenieren versuchen.
„Brigade 8“
Die „Brigade 8“ (mehr dazu hier...) ist eine neonazistische Vereinigung im Stil eines Rockerclubs. Diese wird von den Verfassungsschutzämtern in Sachsen-Anhalt, Bremen und Schleswig-Holstein als antisemitisch und menschenverachtend eingestuft.„President“ des lokalen Chapters „Mittel/ Elbe“ ist Heiko Behr, der Bruder des Rechtsrockunternehmers Henry Behr (Betreiber des neonazistischen „Heimdall Versand“ im Landkreis Wittenberg).
Heiko Behr (Bildmitte)
Foto: Presseservice Rathenow, 12.06.2021, Roßlau
Neonazis der „Brigade 8“ bei einer neonazistischen Demonstration in Roßlau
Foto: Presseservice Rathenow, 12.06.2021, Roßlau
„Königreich Deutschland“
Das 2012 gegründete „Königreich Deutschland“ (mehr dazu hier…) und (hier…) ist eine reichsideologisch und esoterisch geprägte Sekte, die vom selbsternannten „König“ Peter Fitzek angeführt wird.
Fitzek und sein Königreich traten in den letzten Jahren mit illegalen Bank- und Versicherungsgeschäften sowie Querelen mit der öffentlichen Verwaltung, die teilweise auch zu tätlichen Angriffen auf Verwaltungsangestellte durch Fitzek mündeten, in Erscheinung.
Foto: Projekt Gegenpart, 25.06.2022, Wittenberg
Seit 2021 ist der Bewegung ein gewisser Aufwind zuzusprechen, der sich auch in Expansionsplänen und Grundstückskäufen in Sachsen zeigt. Grund dafür ist auch die Nähe zur Querdenken-Gruppe, deren Gründer Michael Ballweg auch ein Konto bei der mittlerweile von der BaFin aufgelösten Scheinbank des Königreichs hatte. Diese sog. Gemeinwohlkasse hatte auch eine Filiale in Wittenberg.
So besucht am 16. März 2022 der neonazistische Videoblogger Nikolai Nerling, der unter dem Pseudonym „Der Volkslehrer“ auftritt, den Phantasiestaat „Königreich Deutschland“ und veröffentlicht dazu ein Video.
Nur wenige Tage später, am 24. März 2022, soll der selbsternannte König Peter Fizek demnach laut Mitteldeutscher Zeitung eine Security-Mitarbeiterin des Wittenberger Landratsamtes angegriffen haben.
Ende August 2022 berichtet das Watchblog „Sonnenstaatland“ indes, dass das „Königreich Deutschland“ von einem Dresdner Waffenhändler Unterstützung erhält.
Das Gelände des „Königreiches“ in Wittenberg
Foto: Projekt Gegenpart, 27.07.2021, Wittenberg
„Der III. Weg“
Die neonazistische Kleinstpartei ist seit Beginn des Jahres 2020 wieder in der Region aktiv, Schwerpunkte sind in Dessau und Köthen. Dort nehmen Aktivist:innen auch seit 2021 regelmäßig an rechtsoffenen Montagsdemonstrationen teil. So hat der neonazistische Zusammenschluss laut Selbstbezichtigung am 07. Januar 2022 im Umfeld der jährlichen Oury Jalloh Gedenk-Demonstration einen so genannten "Streifgang" durchgeführt (mehr dazu hier...), am 13. April 2022 in der Region Anhalt für eine neonazistische Mai-Demonstration in Zwickau Flyer verteilt (mehr dazu hier...) oder am 13. November 2022 anlässlich des Volkstrauertages in Dessau ein geschichtsrevisionistisches „Gedenken“ inszeniert. Dabei gehen die Mitglieder zum Teil äußerst aggressiv vor wie zuletzt im November 2022, als im laufenden Betrieb an je einer Schule in Köthen und Dessau Flyer verteilt wurden um damit neonazistischen Nachwuchs zu generieren.
Abriss aus einem Flyer der neonazistischen Kleinstpartei „Der III. Weg“
Foto: St. Heide, 13.12.2021, Köthen
„NPD / Junge Nationalisten (JN)“
Der Kreisverband Wittenberg der neonazistischen NPD ist nach wie vor in der Region aktiv, dass gilt auch für die "Jungen Nationalisten" (JN), die Jugendorganisation der rechtsextremen Partei. So beteiligten sich JN-Strukturen am 13. Juli 2022 an der bundesweit von der NPD-Jugendorganisation orchestrierten „Aktion Schwarze Kreuze“ und stellten an mehreren Orten im Landkreis Wittenberg Kreuze mit der Aufschrift „Deutsche Opfer, Fremde Täter“ im öffentlichen Raum auf. Damit sollen Tötungsverbrechen rassistisch instrumentalisiert werden. Bereits am 30. Januar 2022 spricht der aus dem Landkreis Anhalt-Bitterfeld stammende NPD-Politiker Holger Großoehmigen auf Telegram Todesdrohungen gegen Politiker:innen, wie „Haseloff kommt der Schädel runter“, aus (mehr dazu hier…). Auf dem Social-Media-Profil von Holger Großöhmigen forderte indes eine Kommentatorin am 13. Juli 2022 indes, man solle dem Wittenberger SPD-Stadtrat Johannes Ehring „Auflauern und ihm ordentlich auf die Mütze geben“. Auch die rechtsextreme NPD beteiligt sich, beispielsweise im Landkreis Anhalt-Bitterfeld am 13. November 2022, an geschichtsrevisionistischen und NS-glorifizierenden Inszenierungen zum Volkstrauertag.
Foto: Presseservice Rathenow, 12.06.2021, Roßlau
Lagebild/ Rechtsextremismus-Monitor für die Region Anhalt
„Corona-Demos“ Dessau-Roßlau
Bereits seit Beginn des Jahres 2021 finden in der Doppelstadt sog. „Montagsmahnwachen“ statt, meist mit geringer zweistelliger Beteiligung. Zum Jahreswechsel 2021/2022 steigen die Teilnehmendenzahlen an den "Coronademos" wie überall auch in Dessau-Roßlau signifikant an (mehr dazu hier…), sie bewegen sich teils im mittleren dreistelligen Bereich. Auch Personen, die der neonazistischen „Aktionsgruppe Dessau-Bitterfeld“ zuzuordnen sind nehmen an den Veranstaltungen teil.
Im Frühjahr 2022 reduzieren sich indes die Teilnehmendenzahlen wieder merklich und ab Spätsommer / Herbst 2022 lässt sich im Kontext der Energiekrise ein erneuter Mobilisierungserfolg mit teils dreistelligen Teilnehmendenzahlen erkennen. Hier werden jedoch nicht die berechtigten Sorgen der Menschen aufgegriffen, sondern stattdessen Angst geschürt und undifferenzierte Verschwörungsmythen reproduziert.
Der versammlungsrechtliche Anmelder der rechtsoffenen Montagsdemonstrationen provoziert einen Mitarbeiter des Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus am Rande einer Kundgebung der Querdenker-Szene am 15. Januar 2022 in der Dessauer Innenstadt
Foto: Foto: Projekt GegenPart,
„Corona-Demos“ Köthen
Schon ab Ende November 2021 finden auch in Köthen sogenannte „Spaziergänge“ gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie statt.
Die neonazistische Kleinstpartei „Der III. Weg“ beteiligt sich auch im Jahr 2022 an den Demonstrationen und versucht diese propagandistisch zu nutzen.
Schlaglicht: Am 03. Oktober 2022 beteiligt sich nach Informationen der Mobilen Beratung beteiligt auch der NPD-Politiker Holger Großöhmigen an einer solchen Demo in Köthen. Es kam durch Teilnehmer:innen der Montagsdemonstration zur Störung des zeitgleich stattfindenden „Fests der Vereine“. Wie einige Anwesende der MZ berichteten, soll es zu „Ausländer raus“-Rufen durch einige Montagsdemonstrant:innen gekommen sein.
Auch in anderen Orten des Landkreises Anhalt-Bitterfeld , so in Zerbst (mehr dazu hier…), finden indes regelmäßig rechtsoffene Proteste gegen die Corona-Maßnahmen statt.
Foto: St. Heide, 13.12.2021, Köthen
„Corona-Demos“ Wittenberg
Wie im Vorjahr (mehr dazu hier…) war die Lutherstadt auch in 2022 erneut der regionale Schwerpunkt der rechts- und verschwörungsoffenen Corona-Proteste in der Region und in ganz Sachsen-Anhalt. .
Im Juli kündigte die verschwörungsideologische Organisator:innengruppe um zwei Unternehmer aus der Lutherstadt an, dass sich der „gesamte Widerstand der letzten zwei Jahre“ dort versammeln sollte. Dieser Versuch kann als knallend gescheitert bezeichnet werden. In der Spitze nahmen damals 1.500 Personen teil, beim letzten Termin mit Compact-Herausgeber Jürgen Elsässer als Zugpferd machten sich eine Woche später nur noch 500 Personen auf den Weg zum Wittenberger Markt.
In Wittenberg wurde für den 31. Oktober 2022 erneut eine deutschlandweite Großmobilisierung angekündigt, der in der Spitze 2700 Personen folgten. Mit Szenegrößen aus dem rechten Querfront- und Querdenken-Milieu wie Jürgen Elsässer, Martin Kohlmann oder Rolf Kron und lokalen Multiplikatoren wie dem Dessauer Obermeister Karl Krökel stellten sie zumindest einen hohen Grad an Vernetzung im verschwörungsideologischen Montagsmahnwachen-Umfeld unter Beweis. Zugleich macht die Einladung von Kohlmann, Elsässer oder auch dem Thüringer Frank Haußner erneut deutlich, dass die Hemmschwelle zur Zusammenarbeit mit der extremen Rechten schlicht nicht mehr vorhanden ist. Das bewies nicht zuletzt das große Spektrum aus lokalen und überregional angereisten Verschwörungsanhänger:innen und Neonazis.
Insgesamt lässt sich zur Entwicklung im Landkreis Wittenberg konstatieren, dass bereits zwischen Frühjahr 2020 und Frühjahr 2021 unter dem Label „Reformation der Meinungsfreiheit“ in der Lutherstadt regelmäßig Coronaproteste stattfanden, die sich wie oben geschildert in einer regelmäßigen Taktung in 2022 fortsetzten. Auffällig ist hier vor allem die schnelle und wohl „nachhaltige“ Radikalisierung von maßgeblichen Organisatoren.
Hinzu kamen 2022 wöchentliche Montagsdemonstrationen in Gräfenhainichen (mehr dazu hier), Sonntags Aufzüge in Jessen, Coswig (mehr dazu hier) und Oranienbaum und Mittwochs Demos in Griebo.
Jürgen Elsässer, Szenegröße und Herausgeber der rechtsextremen Publikation "Compact", spricht am 25. Juli 2022 auf dem Wittenberger Marktplatz
Foto: Projekt Gegenpart
Foto: Presseservice Rathenow, 30.01.2022, Coswig
Lagebild/ Rechtsextremismus-Monitor für die Region Anhalt
Rechte Bedrohungsszenarien
24. Januar 2022 / Wittenberg
Bei einer Montagsdemonstration erteilt die Polizei einem Teilnehmer einen Platzverweis, da er sich weigert eine an einen Galgen erinnernde Lampion-Konstruktion abzulegen. Bei der Abschlusskundgebung fordern zwei Redner, dass führende Politiker:innen aus Deutschland ausgewiesen werden sollen, da diese sich an einem „Komplott gegen das eigene Volk beteiligt haben“. Die Menge skandiert daraufhin Sprechchöre, die Politiker:innen auffordern ihre „Koffer [zu] packen“.
17. Juni 2022 / Dessau-Roßlau, OT Roßlau
Im Vorfeld der „Ökopride“ in Roßlau kündigt die neonazistische Kleinstpartei „Der III. Weg“ in martialischer Manier an, „einer sexuellen Minderheit […] nicht widerstandslos“ die Straßen Roßlaus zu überlassen. Bereits beim „Christopher Street Day“ in Dessau ist die Partei durch queerfeindliche Propaganda aufgefallen.
31. Oktober 2022 / Köthen
Die Mitteldeutsche Zeitung berichtet, dass im Tierpark Köthen Grabsteine mit den Namen und fingierten Todesdaten mehrerer Köthener Bürger:innen aufgestellt wurden. Unter den genannten sind ein ehemaliger Tierpfleger, eine Gastronomin und Oberbürgermeister Bernd Hauschild. Die MZ zitiert den benannten David S. wie folgt: „Man kann das als Morddrohung betrachten, denn das Jahr 2022 ist ja noch nicht vorbei“. David S. war mit dem Leiter des Tierparks verheiratet und kündigte seine Anstellung als Tierpfleger dort im Juni 2022. Die Tatsache, dass sich neben den namentlich benannten auch ein Grabstein für die „Fraktion der Grünen“ befand deutet darauf hin, dass es sich um eine Aktion aus dem rechten.
Lagebild/ Rechtsextremismus-Monitor für die Region Anhalt
NS-Relativierung- und Verherrlichung
07. März 2022 / Dessau-Roßlau, OT Dessau
Laut Selbstbezichtigung führt die neonazistische Kleinstpartei „Der III. Weg“ eine geschichtsrevisionistische „Gedenkaktion“ anlässlich des Jahrestags der Bombardierung Dessaus durch, dabei handelt es sich um eine nicht genehmigte Kranzniederlegung auf dem Friedhof III. Seit Jahren versuchen Akteur:innen aus dem rechten Spektrum zu Anlässen wie diesem, ihre geschichtsrevisionistische Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg zu propagieren. So wird mit der rechten Parole von "alliierten Kriegsverbrechen" ein deutscher Opfermythos verbreitet, der zugleich auch die Verstrickung in deutsche Kriegs- und Menschheitsverbrechen dethematisiert und somit die Frage nach einer lokalen Verankerung dieser Verbrechen verdeckt. Im Falle Dessaus sind beispielsweise die Herstellung von Flugzeugen für die Wehrmacht in den Junkers-Werken und die Produktion des in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern für den industriellen Massenmord genutzten Giftgases Zyklon B (mehr dazu hier…) im IG-Farben Werk hervorzuheben.
08. Mai .2022 / Köthen
„Der III. Weg“ führt anlässlich des Jahrestages der Niederlage NS-Deutschlands einen „Gedenkaktion“ auf einem Friedhof in Köthen durch.
27. Juni 2022 / Bitterfeld-Wolfen, OT Bitterfeld
Die Mitteldeutsche Zeitung berichtet von einem Vorfall am Europagymnasium „Walther Rathenau“ in Bitterfeld. Dort sollen Schüler einer 7. Klasse auf dem Schulhof den Hitlergruß gezeigt und Hakenkreuze gemalt haben. Ein Video des Vorfalls soll dem Schulleiter von einer Lehrerin gezeigt worden sein. Dieser erstattete im Anschluss Anzeige bei der Polizei. Der Elternratsvorsitzende kritisierte das Vorgehen des Schulleiters als unzureichend: Er sei der Ansicht, dass die Taten nicht öffentlich thematisiert und nicht ausreichend verfolgt worden seien.
05. Juli 2022 / Dessau-Roßlau
Wie der Mitteldeutsche Rundfunk berichtet, wird einer Dessau-Roßlauer Familie, die in der Vergangenheit eine Führungsrolle in der inzwischen verbotenen „Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ) einnahm, eine Ehrenpatenschaft des Bundespräsidenten verliehen. Auf Anfrage des MDR erklärte die Stadt, dass eine weitergehende Überprüfung nicht vorgesehen sei. Die Stadt verwies auf ihre ausführende Rolle und erklärte, dass der Fall wohl anders gelagert wäre, hätte es sich um eine Ehrung durch die Stadt gehandelt. Das Bundespräsidialamt wiederum erklärte, dass die Ehrenpatenschaft ausschließlich dem neugeborenen Kind gelte.
Lagebild/ Rechtsextremismus-Monitor für die Region Anhalt
Rassistische Ereignisse
11. Mai 2022 / Bitterfeld-Wolfen, OT Wolfen
Ein 41-jähriger Mann tunesischer Herkunft wurde beim Einsteigen in einen Linienbus von dessen Fahrer lautstark aufgefordert, seinen Mund-Nasen-Schutz aufzusetzen. In der weiteren Folge habe der Busfahrer einen Gegenstand gegriffen und diesen drohend gegen den Geschädigten gerichtet. Der Mann hat die Maske unverzüglich aufgesetzt und ein Busticket geordert. Der Busfahrer, der den Gegenstand wieder beiseite legte, gewährte dem Geschädigten Zutritt zum Bus, habe ihn jedoch in der weiteren Folge verbal rassistisch beleidigt.
13. September 2022 / Zerbst / Internet
Die neonazistische Kleinstpartei „Der III. Weg“ schlachtet einen Tötungsdelikt in Zerbst in rassistischer Weise aus. Dabei wird ein Streit zwischen zwei Männern, die sich gegenseitig mit Messern angegriffen haben sollen, als „Ausländergewalt“ dargestellt, da einer der Männer pakistanischer Herkunft sein soll.
Lagebild/ Monitoring für die Region Anhalt
Queer- und Homofeindliche Ereignisse
24. Februar 2022 / Dessau-Roßlau, OT Dessau
Wie die Mitteldeutsche Zeitung berichtet, kam es in einer Sitzung des Stadtrates von Dessau-Roßlau zu einer homophoben Äußerung. Der AfD-Stadtrat Michael Frisch sprach sich mit dem Argument, man müsse an die Kinder Dessau-Roßlaus und deren Seelen denken, gegen einen in der Doppelstadt geplanten „Christopher Street Day“ aus. Nach der Aufforderung seine Aussage zu konkretisieren griff Frisch den Grünen-Stadtrat Bastian George mit homophoben Aussagen an.
04. Juli 2022 / Dessau-Roßlau, OT Roßlau
Die neonazistische Kleinstpartei „Der III. Weg“ nimmt die in Roßlau stattfindende Ökopride zum Anlass queerfeindliche Propaganda zu verteilen. In den verteilten Flyern werden in üblicher Manier Forderungen wie „Familien schützen“ und „Homo-Propaganda stoppen“ verbreitet .
05. September 2022 / Gräfenhainichen (LK Wittenberg)
Wie die Mitteldeutsche Zeitung berichtet, wurde nach dem queer-feministischen „Whole“-Festival, das am letzten Augustwochenende auf Ferropolis stattfand, ein Busfahrer wegen homofeindlicher Beleidigungen angezeigt. Dem Fahrer wird vorgeworfen, Fahrgästen die Mitnahme verweigert und dies mit homofeindlichen Beleidigungen begründet zu haben. Ein Anwohner, der die Situation beobachtete, berichtet auch, dass der Fahrer Festivalgäste geschubst haben soll, als sie trotzdem in den Bus steigen wollten. Die Polizeiinspektion Dessau-Roßlau ermittelt nun wegen Beleidigung, zudem leitete das betreffende Busunternehmen ein internes Ermittlungsverfahren ein.
Resümee
Die registrierten rechtsextremen Delikte, Angriffe und Ereignislagen in der Region Anhalt sind in 2022 überproportional angestiegen. Hierbei handelt es sich um ein absolutes Allzeithoch, das seit Bestehen der Chronik (1999) für ein Jahr registriert werden konnte.
Die Corona-Pandemie bot der extremen Rechten ein Handlungs- und Propagandafeld, um das relativ breite Mobilisierungspotential von Initiativen wie Querdenken und deren regionalen Ablegern zu nutzen, eine Art Schulterschluss zwischen dem organisierten Rechtsextremismus und einem bürgerlichen Klientel zu propagieren - wenn gleich mit unterschiedlichen Erfolg.
Bereits im Frühjahr war durch den russischen Überfall eine thematische Verschiebung festzustellen, die jedoch die autoritären Tendenzen der Organisator:innen und Teilnehmenden deutlich machen.
Eine erneute Mobilisierungswelle war im Spätsommer / Herbst auszumachen, als im Zuge der Energiepreiskrise die Teilnehmendenzahlen in allen Gebietskörperschaften anstiegen.
Zugleich zeigt sich durch das schnelle Absinken der Teilnahme, dass es möglich ist einen relevanten Teil der Bevölkerung von der Teilnahme an rechten Protesten abzuhalten, indem alternative Angebote durch demokratische Akteur:innen gemacht werden.
Die soziale Frage und der politische Umgang mit ihr, ist eine zentrale Stellschraube für die Prävention rechter Mobilisierungen.
Rassistische Ereignislagen und rechte Bedrohungsszenarien sind nach wie vor festzustellen und dürfen nicht aus dem Blick geraten.
Auch verschiedene Formen der Relativierung und Glorifizierung des Nationalsozialismus gehören nach wie vor zum Aktionsspektrum rechter Akteur:innen.
Ein deutlicher Anstieg war für den Phänomenbereich Queer- und Homofeindlicher Vorfälle zu vermelden. Dies liegt einerseits an der erhöhten Sichtbarkeit durch Veranstaltungen wie den „Christopher Street Day“ oder das „Whole-Festival“. Zum anderen ist aber queerfeindliche Agitation, im Zuge der durch rechte Akteur:innen verbreiteten Kulturkampfmentalität, auch ein stärkeres Aktionsfeld der extremen Rechten geworden.
Umso wichtiger ist es antidemokratische, antisemitische, rassistische und queerfeindliche Tendenzen, die nicht auf den ersten Blick als rechtsextrem erkennbar sind, in den Blick zu nehmen. Denn die Ereignislagen im Jahr 2022 in der Region zeigen, dass aus Beleidigungen und Verleumdungen – im Netz und auf der Straße – schnell reale Gewalt und Diskriminierung werden kann.
Bleibt eine deutliche und laute Ächtung solcher Menschenverachtung aus, verstehen das rechte Zusammenhänge aller Couleur als praktische Handlungsaufforderung, einfach und unwidersprochen weiter zu machen wie bisher.
Zahlreiche engagierte Vereine, Bürger:innenbündnisse und Initiativen in der Region, die sich mit ihren zivilgesellschaftlichen Engagement für ein soziales und menschenrechtsorientiertes Zusammenleben einsetzen, bilden dabei eine wichtige demokratische Gegenstimme.
Diese gilt es auch unabhängig von Förderkonjunkturen- und Programmen politisch, operativ und finanziell zu unterstützen, damit die Betroffenen eine Stimme haben und die Engagierten Wertschätzung und Anerkennung erhalten.
INFOS / KONTAKT
Projekt GegenPart – Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt
Schlachthofstraße 25
06844 Dessau-Roßlau
Tel.: 0340-520 980 27
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