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„Meine Mutter wollte niemals nach Dessau zurückkommen, weil sie so betrogen wurde.“

Dessau-Roßlauer Bündnis gegen Rechtsextremismus erinnert an jüdische Bewohner //Gedenktafel im Stadtzentrum eingeweiht

Hans Hunger vom Dessau-Roßlauer Bündnis gegen Rechtsextremismus (BgR) braucht einige Zeit, um alle kommunalpolitischen Akteure und deutungsmächtige Persönlichkeiten der Stadt vorzustellen, die am 03. April 2008 bei miesem Wetter den Weg in die Kavalierstrasse gefunden haben. Unter den fast 80 Gästen, ist so auch der Oberbürgermeister zu finden. Der Kulturamtsleiter und der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde sind zugegen und das benachbarte Gymnasium Philanthropinum hat eine kleine Abordnung geschickt. Noch vor einiger Zeit, da sind sich viele Beobachter einig, wäre ein so großer Bahnhof für eine Veranstaltung die sich mit dem nationalsozialistischen Terror in Dessau auseinandersetzt, wohl eher nicht zu erwarten gewesen. Das liegt zum einem an dem unermüdlichen Engagement von Initiativen wie dem BgR, aber eben auch an einem erinnerungspolitischen Wandel und einem erweiterten Verständnis von Gedenkkultur. So hat die Dessauer Wohnungsbaugesellschaft (DWG), bei der sich der BgR-Vertreter ausdrücklich bedankt, es unbürokratisch ermöglicht, dass die später eingeweihte Gedenktafel an dem Haus angebracht werden konnte. Zudem wurde das Vorhaben vom Lokalen Aktionsplan für Demokratie und Toleranz der Stadt unterstützt und gefördert (mehr dazu hier...). 

 




rund 80 Gäste verfolgten die Gedenkveranstaltung

Wir werden über die Ursachen ihrer Vertreibung nachdenken.“, eröffnet Hans Hunger das Gedenken für die ehemaligen jüdischen Bewohner des früheren Hauses in der Kavalierstrasse 23. Dabei ist der Ort und das Datum nicht etwa zufällig ausgewählt. Wo heute ein internationaler Mobilfunkanbieter seine Produkte anbietet, pulsierte vor dem Nationalsozialismus das jüdische und zionistische Leben der Stadt. Am 03. April 2008 jährt sich zudem der 100. Geburtstag Jenny Goldmann-Wahls. Das Leben und Wirken der 2003 in Israel verstorbenen Jüdin, die mit ihrer Familie in der Kavalierstrasse wohnte, steht im Mittelpunkt des Erinnerns.

 
Hans Hunger vom Bündnis gegen Rechtsextremismus moderiert

Kaum einer hat sich um die Aufarbeitung des jüdischen Teils der Stadtgeschichte so verdient gemacht, wir der Lokalhistoriker Werner Grossert. Ihm ist es zu verdanken, dass überhaupt ein Kontakt mit der Familie Wahl und anderen ehemaligen jüdischen Einwohnern Dessau zu Stande kam. Von ihm stammt auch die Idee, ein öffentliches Gedenken anzuregen und so das Vermächtnis der Bewohner des Hauses Kavalierstrasse 23 – und nicht nur der – zu ehren. „Ich würde Sie bitten, zurückzudenken an die Zeit vor 75 Jahren.“, beginnt Grossert seinen Beitrag. Er berichtet von der Verfolgung der 400 jüdischen Frauen, Männer und Kinder in Dessau, die schließlich in die Deportation und Ermordung in den Vernichtungslagern führte. „Wenn wir durch die Stadt gehen, finden wir an keinem Haus einen Hinweis auf die jüdischen Bewohner.“, so der Lokalhistoriker und fügt hinzu: „Wir wollen diese Namenlosigkeit überschreiten“. Grossert erzählt von den Stolpersteine für ermordete Juden der Stadt, die im Mai diesen Jahres verlegt werden. Dies sei ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Stadtgeschichte, der längst überfällig sei. Doch Grossert reicht das nicht. Es sei genau so wichtig an die jüdischen Bürger zu erinnern, die die Gefahr damals erkannt haben und zumeist aus „zionistischen Motiven heraus“ rechtzeitig aus Nazi-Dessau fliehen konnten. Zu diesen vertriebenen Flüchtlingen zählten auch einige Bewohner des Hauses im Stadtzentrum. Grossert nennt dafür Beispiele. Da gab es den Zahnarzt Dr. Georg Michelsohn, der ab 1911 in der Kavalierstrasse praktizierte, bis die Nazis am 01. April 1933 zum Boykott seiner Praxis aufriefen. Damit wäre er wahrscheinlich der erste politische Flüchtling der Stadt gewesen. Außerdem erfährt man, dass Michelssohn Gedichtsbände verfasst hat die später in Israel publiziert wurden. Grossert kennt die Werke und fordert: „Seine Gedichte sollten hier in Dessau im Literaturunterricht gelehrt werden.“


der Lokalhistoriker Werner Grossert informiert über die Geschichte des Hauses

Der Lokalhistoriker erzählt von Martin Goldmann, dem Bruder Jennys, der im zionistischen Jugendverband organisiert war und sich bei einem Überfall von Nazischlägern mit einer Schreckschusspistole zu Wehr setzte und danach fliehen musste. In Anlehnung an einen aktuellen kulturpolitischen Werbeslogan der Muldestadt sagt Grossert: „Da war Dessau schon lange kein Schauplatz vernünftiger Menschen mehr.“

Jenny Goldmann-Wahl steht im Mittelpunkt der Ausführungen. „Sie gehört in die Geschichte der Stadt Dessau.“, meint Werner Grossert angesichts des beindruckenden Lebenswerkes dieser mutigen Frau. Jenny Goldmann hat während der Nazizeit jüdische Kinder aus Deutschland nach Amerika gebracht und damit gerettet. Sie war es auch, die 1962 in Tel Aviv ein Treffen der überlebenden Dessauer Juden organisierte und 1971 dafür sorgte, dass auf dem Zionsberg in Jerusalem eine Gedenktafel errichtet wurde, die an die Zerstörung der jüdischen Gemeinden in Dessau, Köthen, Bernburg und Zerbst erinnert. „Die Vertreibung der Dessauer Juden war nicht nur ein Verbrechen an den Juden selbst, sondern ein Verbrechen an Dessau.“, ist sich Grossert sicher.


Später überreicht Hans Hunger stellvertretend für die Forschungsgruppe Zyklon B dem Oberbürgermeister ein Buch, dass über die Produktion des Schädlingsbekämpfungsmittel aufklärt. Die Initative spendet Dessauer Schulen insgesamt 80 Exemplare der Publikation.

Oberbürgermeister Klemens Koschig erinnert in seiner Rede zunächst an den ehemaligen Landgerichts-Direktor und Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, Martin Alterthum. Auch für ihn war seine Karriere 1933 abrupt beendet. Sechs Jahre später flüchtete er mit seiner Familie nach Palästina. Koschig fragt in Anlehnung und Umkehr an ein Buch, dass sich fiktiv mit der Frage auseinandersetzt was gewesen wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte: „Was wäre eigentlich passiert, wenn es Hitler und diese Barbarei nicht gegeben hätte ?“ Der Oberbürgermeister liefert die Antwort gleich mit. Dann hätte Dessau und Deutschland wohl sehr kompetente Köpfe, Architekten, Künstler und Nobelpreisträger nicht verloren. Für Koschig gehörte die Jenny Goldmann-Wahl und ihr Umfeld zu „einer Generation sehr angesehener Bürger“. Doch gerade in der Blütezeit der Familie Wahl habe es auch in Dessau „einen praktizierten Antisemitismus gegeben“, der sich in einem Verein organisierte und von einem berühmten Automobilveteranen protegiert worden sei (mehr dazu hier...). Koschig erinnert auch an einen fast offenen Pogromaufruf in einer Dessauer Tageszeitung, in dem alle Juden der Stadt mit Namen und Adressen abgedruckt wurden: „Das war ein schrecklicher Tag in unserer Geschichte.“ Für Koschig ist es heute noch nicht nachvollziehbar, das „Mitbürger ihre Nachbarn schlagen und treten und dazu beitragen, dass sie in die Vernichtungslager kommen.“ 


Oberbürgermeister Klemens Koschig

Er dankt Jenny Goldmann-Wahl im Namen der Stadt für ihre Verdienste und kündigt an, ihren Sohn nach der Veranstaltung im Rathaus zu empfangen. Das Stadtoberhaupt spannt auf Grund aktueller Ereignisse (mehr dazu hier...)  einen Bogen zu aktuellen Erscheinungsformen des Rechtsextremismus in Dessau-Roßlau.  Er findet es unerträglich, dass Neonazis heute die Verbrechen des Nationalsozialismus leugnen. Dieser „Geschichtsklitterung“ müsse entschlossen entgegengetreten werden. Er appelliert, unbedingt wachsam zu bleiben und endet mit den Gruß: „Shalom.“


Chanania Wahl (m.), dessen Frau Rene und Klemes Koschig


Landesrabbiner Moshe Flomenmann ruft alle Anwesenden auf, sich für ein demokratischen Deutschland stark zu machen. „Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, dass Dessau eine friedliche Stadt bleibt.“, sagt der Rabbiner weiter. Die Geschichte zeige zwar nicht, welcher Weg in Zukunft gegangen werden müsse, aber sie zeige, welcher Weg es nicht sein dürfe. Nach einem Gebet für die Bewohner des ehemaligen Hauses in der Kavalierstrasse meint Moshe Flomenmann abschließend: „Und ich hoffe, dass was wir heute machen, geht in die Geschichte ein.“


Landesrabinner Moshe Flomenmann erinnert an

Noch bevor Chanania Wahl ans Mikro tritt, brandet spontan Applaus auf. Der Sohn Jenny Wahls ist auf Einladung der Organisatoren zusammen mit seiner Frau Rene` in die Stadt gekommen. Der pensionierte Flugzeug-Ingenieur lebt im israelischen Rehovot. Der 70jährige hat die Schrecken der Vertreibung und Entrechtung nicht bewusst erlebt, aber in der Familie sei dies immer ein Thema gewesen. „Meine Mutter wollte niemals nach Dessau zurückkommen, weil sie so betrogen wurde.“, fasst er seine Eindrücke zusammen.


Chanania Wahl erinnert mit einfühlsamen Worten an seine Mutter Jenny


der Sohn Jenny Goldmann-Wahls enthüllt die Gedenktafel in der Kavalierstrasse


Dennoch ist er von der Ehrung sichtlich berührt und ergriffen. Für ihn ist das heutige Gedenken eine Erinnerung und Mahnung zugleich. „Es ist kein Andenken für die Familie, die nicht mehr da ist.“, sagt er und meint damit, dass er die Veranstaltung als Gedenken für alle jüdischen Gemeinden begreife, die „eines Tages durch soviel Schlechtigkeit zerstört wurden“. Chanania Wahl bedankt sich ausdrücklich im Namen ehemaliger Dessauer Juden bei Werner Grossert für dessen Engagement und bemüht zum Schluss die Möglichkeitsform: „Wäre es nicht zum Krieg und der Vertreibung gekommen, wäre ich heute vielleicht auch ein stolzer Dessauer.“ 

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