"Wir verneigen uns heute voller Ehrfurcht vor den Opfern und dem Leid der Überlebenden."

Gedenken an die vor 75 Jahren aus Dessau-Roßlau vertriebenen Sinti

Auf Anregung des Alternativen Jugendzentrum Dessau (AJZ) fand am 1. Februar 2013 in Kooperation mit der Stadt Dessau-Roßlau erstmals eine Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an das Unrecht der Vertreibung der Sinti, die fast alle Opfer des Holocaust an den Sinti und Roma wurden, statt. Auf der Grundlage eines historischen Dokuments, welches 53 Sinti namentlich aufführt, recherchierte das AJZ über Jahre die Leidenswege im Landeshauptarchiv in Magdeburg und dem Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau. Weitere 17 Kinder und Jugendliche, die von der Ausweisung betroffen waren, denn es waren nur über 16-jährige aufgeführt, wurden ermittelt.

In seiner Gedenkrede (hier im vollständigen Wortlaut Herunterladen…) verwies Oberbürgermeister Klemens Koschig darauf, dass die Familien Laubinger, Thormann, Lauenburger, Franz und andere bis zum Beginn der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ihren Lebensmittelpunkt in Roßlau hatten und ein enges, freundschaftliches Verhältnis zum Fotojournalisten Hanns Weltzel bestand. Die drei jüngsten von der Ausweisung Betroffenen wurden alle in Dessau geboren: Anneliese Stein am 16.12.1937, Walter Franz am 15.11.1937 und Inge Böhmer am 5.11.1936. Sie waren unter den 44 der 70 Ausgewiesenen, die fünf Jahre später von Magdeburg nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Für Klemens Koschig sind diese Schicksale von einstigen Bürger_innen der Stadt Mahnung und Verpflichtung zugleich: "Wir verneigen uns heute voller Ehrfurcht vor den Opfern und dem Leid der Überlebenden."


Oberbürgermeister Klemens Koschig forderte in seinem Statement, die heute immer noch bestehenden Vorurteile gegen Sinti und Roma stärker in den Blick zu nehmen


Walter Franz und seine Mutter Anna gehörten zur weitverzweigten Familie von Siegfried Franz, stellvertretender Geschäftsführer des Verbandes der niedersächsischen Sinti, der mit seiner Frau und seinem jüngsten Sohn als Ehrengast an der Gedenkveranstaltung teilnahm und ein aufrüttelndes Grußwort sprach. Sein Vater Johann Franz hatte über sechs Jahre in mehreren Konzentrationslagern, darunter Sachsenhausen, Mauthausen (wo er den Mord an seinem Vater miterlebte), Dachau und Buchenwald, leiden müssen. Franziska Franz, die Großmutter von Siegfried Franz, wurde in den Konzentrationslagern Lichtenburg und Ravensbrück gequält und schließlich in der Bernburger Gaskammer ermordet. Siegfried Franz, geboren 1951, wuchs im „Ghetto Papenhütte“ in Osnabrück auf. Dort hatten die Behörden die wenigen Überlebenden des Völkermordes an den Sinti und Roma unter unmenschlichen Lebensbedingungen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. In Papenhütte hatte sich in der Nazizeit ein Lager befunden. Von dort erfolgte die Deportation der Sinti aus Osnabrück nach Auschwitz, später litten an diesem Ort Kriegsgefangene. Familie Franz musste in den Holzbaracken auf engstem Raum ohne fließendes Wasser leben. „Mein Vater war durch die KZ-Haft ein kranker und gebrochener Mann. Er hatte gesundheitliche Probleme, die unter anderem aus den medizinischen Experimenten in Buchenwald resultierten.“ Als Kind erlebt Siegfried Franz die nächtlichen Albträume des Vaters und fragt ihn immer wieder, was passiert sei. Doch der Vater wollte den kleinen Jungen nicht belasten und erzählte ihm erst später einige Erlebnisse. Von der Schulbehörde wird der Junge so wie die viele Sintikinder jahrelang vom Schulbesuch ausgeschlossen. Als er mit 12/13 Jahren auf Drängen seiner Mutter in der ersten Klasse sitzt, beschäftigt sich der Lehrer nicht mit ihm. Von der Papenhütte zu kommen, ist ein Stigma. Nur einmal erlebt er, dass ein Junge der Mehrheitsgesellschaft mit ihm befreundet sein möchte, aber gerade dieses positive Erlebnis prägt ihn bis heute. Als Erwachsener holt er die verweigerte Bildung nach und beginnt, sich für die Rechte der Sinti einzusetzen.


Familienangehörige von Siegfried Franz (Bildmitte 1. Reihe), dem Ehrengast der Gedenkveranstaltung, fielen dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer

Siegfried Franz bedankte sich beim AJZ für das langjährige Engagement zur Erinnerung an die Opfer und die Unterstützung der Gedenkveranstaltung durch die Stadt. Er fand aber auch sehr deutliche Worte, dass es sich bei dem Gedenken nicht um einen einmaligen Akt handeln dürfe. Das Ausmaß dessen, was die Opfer erleiden mussten, aber auch die anhaltende Diskriminierung der Sinti und Roma erfordern weiteres und kontinuierliches Bemühen um die Erinnerung und den Einsatz für die Menschenrechte in der Gegenwart.
Den Worten von Siegfried Franz folgte der Film „Was mit Unku geschah – Das kurze Leben der Erna Lauenburger“, ein Produkt der Spurensuche einer Jugendgruppe des AJZ Dessau. Ab 1972 gehörte der 1931 erschienene Jugendroman „Ede und Unku“ der jüdischen Schriftstellerin Grete Weiskopf, die unter dem Pseudonym Alex Wedding schrieb, zur Pflichtlektüre des DDR Schulunterrichtes. Der in den zwanziger Jahren in Berlin spielende Roman erzählt, im Kontext der Weltwirtschaftskrise, von der Freundschaft des Arbeiterjungen Ede zu dem Sintimädchen Unku. Die Romanfiguren waren real existierende Personen, die die Autorin kannte. Erna Lauenburger gehörte mit ihrer Familie zu den aus Dessau-Roßlau Vertriebenen.
Zu den eindrucksvollsten Momenten des Filmes gehören die Zeitzeugenaussagen der Sintezza Wald Frieda Weiss, der am 18.1.2013 verstorbenen Tante von Siegfried Franz, die Erna Lauenburger aus der Zeit in Magdeburg kannte und entfernt verwandt mit ihr war. 

Fünf Jugendliche des AJZ gestalteten den Hauptteil der Gedenkveranstaltung: die Namens- und Leidensweglesung. Von den siebzig bisher bekannten Opfern fand das Dessauer Jugendzentrum fünfzig von den Tätern erzwungene Fotografien. Schwarz umrandet erschien das Bild eines Mannes in mittleren Jahren. Mario trat vor und verlas mit getragener Stimme: „Wilhelm Laubinger, bei Ausweisung aus Dessau-Roßlau 46 Jahre alt, Mitte Juni 1938 von Magdeburg in das KZ Buchenwald verschleppt, von dort in das KZ Natzweiler, ab März 1943 im KZ Dachau, ein Jahr später  wieder im KZ Natzweiler, weiterer Leidensweg unbekannt“. Kristin zündete die erste Gedenkkerze an. Bildwechsel: Das Foto einer älteren Frau, gezeichnet von Sorgen, dazu Monique: „Auguste Laubinger, geborene Schmidt, am 1. März 1943 von Magdeburg nach Auschwitz deportiert, dort im Alter von 65 Jahren ermordet“. Als die Kerze brennt, fährt Monique fort: „Tochter Johanna Laubinger, bei Ausweisung aus Dessau-Roßlau 14 Jahre alt, am 1. März 1943 von Magdeburg nach Auschwitz deportiert, ab April 1944 im KZ Ravensbrück, im August 1944 in das KZ Buchenwald, vermutlich in ein Nebenlager, verlegt, weiterer Leidensweg unbekannt.“ Jeder im Saal konnte dazu das Foto der jungen Frau sehen. Es folgte ein Bild einer anderen jungen Frau. Dazu Vanessa: „Helene Laubinger, am 1. März 1943 von Magdeburg nach Auschwitz deportiert, dort im Alter von 31 Jahren ermordet.“ Wieder eine Kerze. Das Foto einer roten Rose erschien. „Sohn Jonny Laubinger, bei Ausweisung aus Dessau-Roßlau 1 Jahr alt, bei Ankunft in Auschwitz 6 Jahre alt, vermutlich dort ermordet.“ Vom kleinen Jonny gibt es kein Foto, doch es werden im Verlauf der Lesung auch Kinderfotos zu sehen sein, angefertigt im Zuge erkennungsdienstlicher Behandlungen durch die Kriminalpolizei Magdeburg. Auf Jonny folgt das Foto eines seiner Onkel. Steffen berichtet: „Wilhelm Laubinger, im Juni 1938 von Magdeburg in das KZ Buchenwald verschleppt, 1942 im Außenlager Lauenburg des KZ  Stutthof  im Alter von 27 Jahren ermordet.“ Am Ende der von Kristin, Monique, Vanessa, Steffen und Mario sehr bewegend gestalteten Gedenkzeremonie brannten siebzig Kerzen im Dessauer Rathaussaal. Lediglich zwei Überlebende sind bekannt. Jana Müller vom AJZ bat die Anwesenden, sich für einen Moment der Stille von den Plätzen zu erheben: „Wir müssen davon ausgehen, dass uns heute noch nicht alle Vertriebenen unter 16 Jahren bekannt sind und vielleicht auch nie bekannt werden. Für sie und die mehr als 500.000 Sinti und Roma, die dem nationalsozialistischen Völkermord zum Opfer fielen, entzünden wir die letzte Kerze.“


Jugendliche verlasen die Namen der Opfer und deren Leidenswege


Mit einem Zitat von Zoni Weisz aus seiner Rede im Deutschen Bundestag am 27. Januar 2011 neigte sich die Gedenkveranstaltung dem Ende zu: „Es kann und darf nicht sein, dass ein Volk, das durch die Jahrhunderte hindurch diskriminiert und verfolgt worden ist, heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, immer noch ausgeschlossen und jeglicher ehrlicher Chance auf eine bessere Zukunft beraubt wird…ich möchte enden, indem ich die Hoffnung ausspreche, dass unsere Lieben nicht umsonst gestorben sind. Wir müssen ihrer auch künftig gedenken, wir müssen auch weiterhin die Botschaft des friedlichen Miteinanders verkünden und an einer besseren Welt bauen – damit unsere Kinder in Frieden und Sicherheit leben können.“


Die beiden Musiker, Frauke Sonnenburg und Besim Tahiri vom Romano Drom e.V. Magdeburg beschlossen den Abend mit einem in Auschwitz entstandenem Lied der Roma.

Es wäre wünschenswert gewesen, dass der Anteil anwesender Stadträte von Dessau-Roßlau, die den Opfern des Holocaust an Sinti und Roma, die Anfang 1938 aus ihrer Stadt vertrieben wurden, die Ehre erwiesen hätten , höher ausgefallen wäre. Das AJZ Dessau wird weiterforschen und alles dafür tun, dass die Opfer nicht vergessen werden.
Eine Liste der 19 Filmproduktionen des AJZ kann unter Diese E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt! Sie müssen JavaScript aktivieren, damit Sie sie sehen können. angefordert werden.




Infos / Kontakt:


Jana Müller
Schlachthofstr. 25
06844 Dessau-Roßlau
Tel.: 0340 – 26 60 21 9
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt! Sie müssen JavaScript aktivieren, damit Sie sie sehen können.
Web: www.ajz-dessau.de

 

Projekt GegenPart – Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt