„Was sollen wir heute mit dem Wissen um das Wissen tun?“

Mit würdiger Zeremonie und Steinlegung wurde an die Opfer des NS-Terrors in Dessau gedacht

Als die fast 200 Gäste die Gedenkveranstaltung am 10. November 2013 in der Marienkirche verließen, hatten die meisten von ihnen, genau 149, faustgroße Marmorsteine in der Hand. Darauf stehen die Namen von 149 jüdischen Menschen aus Dessau und Roßlau, die im Holocaust ihr Leben verloren. Anfang November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen, wurden jüdische Geschäfte geplündert und Menschen erschlagen. Die von den Nazis zynisch und menschenverachtend als „Reichskristallnacht“ bezeichneten konzertierten Aktion, war dabei ein inszenierter Meilenstein hin zur Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. 75 Jahre später erinnerte nun die Stadt, zusammen mit der Jüdischen Gemeinde, den Kirchen und dem Alternativen Jugendzentrum an diesen Pogrom vor der eigenen Haustür.


Die weißen Marmorsteine lagen im Eingangsbereich der Marienkirche aus

Gleich im Eingangsbereich der Marienkirche steht ein großer Tisch. Darauf liegen weiße Marmorsteine. Jugendliche vom Theaterjugendclub des Anhaltischen Theaters, dem Jugendtreff der Katholischen Pfarrei Peter und Paul und der Evangelischen Jugend, die zuvor im Rahmen des Erinnerungsprojektes „Ein Mensch – ein Name – ein Gedenkstein“ des Alternativen Jugendzentrums die Steine beschriftet hatten, verteilen diese an die Gäste. Viele von denen können mit dieser Erinnerungsgeste etwas anfangen, sind bereits informiert. Andere fragen interessiert nach und erfahren so, dass die Steine später in der Askanischen Straße, zum zweiten Teil der Gedenkveranstaltung, dort abgelegt werden, wo heute eine Stele am Standort der ehemaligen Synagoge an den Novemberpogrom erinnert.

Kurz bevor die Violinistin Irina Woronkina mit einem Stück aus der Filmmusik von „Schindlers Liste“ eröffnet, ist ein polterndes Geräusch zu hören. Offenbar ist einer der Marmorsteine zu Boden geglitten.



„Heute vor 75 Jahren waren noch die rauchenden Reste der Dessauer Synagoge mit ihrer soliden Kuppel zu sehen.“, sagt Oberbürgermeister Klemens Koschig zu Beginn des Gedenkens in der Marienkirche.  Und schließlich versucht das Stadtoberhaupt, sich dieser Barbarei historisch anzunähern: „Die Nazis haben ihre ganze unmenschliche Verachtung zuerst an Bauwerken und dann an Menschen ausgelassen.“  Zudem spannt er einen Bogen zur Jetztzeit, zum geschichtsrevisionistischen und NS-glorifizieren Rechtsextremismus, mit dem auch Dessau alljährlich im März (mehr dazu hier…) konfrontiert ist: „149 Schicksale, 149 Steine. Was die Neonazis wollen, nämlich das diese Namen vergessen werden, passiert eben nicht.“


Oberbürgermeister Klemens Koschig erinnerte mit mahnenden Worten an die Zerstörung der Dessauer Synagoge vor 75 Jahren

Nachdem Benjamin David Soussan das Kaddisch, ein jüdisches Totengebet, gesprochen hat, findet er deutliche Worte: „190 zerstörte Synagogen, 7.500 Geschäfte geplündert, 30.000  Juden nach Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen deportiert, der 09. November 1938 war der Anfang der systematischen Vernichtung.“ Der Rabbiner der jüdischen Gemeinde zu Dessau spricht angelehnt an ein Zitat des Holocaustüberlebenden Elie Wiesel die Frage an, ob die Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus von den unsäglichen Verbrechen wussten: „Was soll man heute mit diesem Wissen tun, mit dem Wissen um das Wissen?“ Die Antwort darauf scheint für ihn klar: „Mahnen allein ist nicht genug, wir sind verpflichtet zu erinnern und es darf kein Vergessen geben. Ich wünsche uns allen `Schalom`.“


Dessaus Rabbiner Benjamin David Soussan appelliert: "Es darf kein Vergessen geben"

Wenig später liegen alle 149 Marmorsteine auf dem kleinen Plateau vor der Gedenkstele mit der Inschrift „Den jüdischen Frauen, Männern und Kindern, die dem Naziterror von 1933 bis 1945 zum Opfer fielen“, die zuletzt 2007 von mutmaßlichen Rechtsextremisten geschändet wurde (mehr dazu hier…).



„Ein Blumenhändler, drei Lebensmittelhändler, ein Schneider, ein Döner-Verkäufer, der Inhaber eines Schlüsseldienstes, ein Kioskbesitzer, ein Betreiber eines Internetcafes und eine Polizistin“, zählt Klemens Koschig scheinbar wahllos auf um schließlich zu konkretisieren: „Sie wissen es, das ist die Opferliste der Zwickauer Terrorzelle, des sogenannten NSU („Nationalsozialistischer Untergrund; Anm. d. Red.). Das sind die Mordopfer dreier junger Deutscher, die mitten uns, geschützt und gedeckt durch ein funktionierendes Nazi-Netzwerk, ihre krude Ideologie mit Terror-Methoden durchkämpfen konnten.“ Für den Oberbürgermeister beginnt der Kampf gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus nicht in den Regierungsbüros, Universitäten und Schulen, sondern in der alltäglichen Sphäre: „Er beginnt bei Ihnen zu Hause am Küchentisch. Denn dort wird gegessen und gesprochen, in der Familie, mit  Freunden und Nachbarn. Das ist der perfekte, vielleicht sogar der einzige Ort, an dem Sie unmittelbar etwas bewegen können.“



Kreisoberpfarrerin  Annegret Friedrich-Berenbruch ist ihre Fassungslosigkeit anzumerken: „Wie konnte es dazu kommen? Jeder Versuch der Erklärung und Aufarbeitung dieser schreckstarrenden Geschichte entzieht sich unserem Begreifen.“ Es gelte immer wieder und rücksichtlos nach dem „Warum?“ dieser Geschichte, unserer Geschichte, zu fragen, vor allem deshalb, weil sich einiges „subtil und infam“ wieder in unsere Zeit und die Köpfe eingefressen habe: „Wir dürfen nicht verschweigen, wie jüdische Mitbürger geschunden und mißachtet wurden, dem Mob ausgeliefert waren, verfolgt und getötet wurden. Die Wunden dieses Pogroms werden nie verheilen, die Lücken, die diese Gräueltaten gerissen haben, werden nie geschlossen.“


"Wir dürfen niemals verschweigen", Kreisoberpfarrerin Annegret Friedrich-Berenbruch



Inzwischen liegen 149 mit Namen beschriftete Marmorsteine auf dem jüdischen Friedhof der Stadt. Es bleibt zu hoffen, dass neben der genauso notwendigen wie richtigen Erinnerungskultur, das derzeitige jüdische Leben in der Stadt gewürdigt und unterstützt wird. Und Antisemitismus ist kein Gespenst aus der Vergangenheit, sondern leider so aktuell wie virulent. Dagegen lautstark und wahrnehmbar die Stimme zu erheben, sollte alle angehen.       



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Projekt GegenPart – Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt