„Man könnte sagen, sie haben nun endlich einen Grabstein.“

Stolpersteinverlegung für Dessau-Roßlau


Pfarrer (i. R.) Günther Donath moderiert das Gedenken

Im Rahmen des vom Lokalen Aktionsplan für Demokratie und Toleranz geförderten Projektes „Gedenkkultur Dessau-Roßlau“ (mehr dazu hier…) sind am 24. August 2009 zwölf weitere Stolpersteine verlegt worden. Mehr als einhundert Menschen kamen an der ersten Station in der Rabestraße zusammen, um den ermordeten ehemaligen Dessauerinnen und Dessauern zu gedenken. Die Stolpersteine zeigen auf einer Messingplatte die Namen und Lebensdaten sowie Umstände des Todes – sofern diese Daten bekannt sind – von Menschen, die während des Nationalsozialismus deportiert und ermordet worden sind. Die Orte der Gedenksteine markieren dabei den letzten selbst gewählten Wohnort jener Opfer des NS-Terrors. „Jeder Stolperstein ist ein Stein des Anstoßes“, bringt Günther Donath, Vertreter der „Werkstatt Gedenkkultur“, in seiner Moderation zum Ausdruck und fährt fort: „Unseren Verstand wollen sie anstoßen und unser Gewissen“. 
 

mehr als einhundert Menschen verfolgen die Verlegung der Stolpersteine in der Rabestraße

„Stolpersteine“ ist ein europaweites Projekt des Kölner Künstlers Günther Demnig. Er möchte damit die lokale Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung von Juden, Sinti und Roma, politisch Verfolgten, Homosexuellen, Zeugen Jehovas und von „Euthanasie“-Opfer lebendig halten. Demnig, der bereits zur zweiten Verlegung in der Doppelstadt weilt, hat in Hamburg jüngst seine 20.000 Messingplatte in einen europäischen Gehweg eingelassen.


Kulturamtsleiter Gerhard Lambrecht

Donath erinnert daran, dass in der Nacht zum 31. Juli 2009 zwei Stolpersteine in der Kurzen Gasse von mutmaßlichen Rechtsextremen gestohlen worden sind und fragt in die Runde der Gäste: „Wollen diese Täter, dass die Opfer des NS-Regimes auf diese Weise erneut geschändet und gequält werden?“ Die Aufmerksamkeit von allen sei zukünftig gefordert, um solche schändlichen Taten zu verhindern. Die entwendeten Gedenksteine sollen dann auch bald erneuert werden, gibt er bekannt.  „Möge jeder Stolperstein ein Anstoß des Guten sein“, schließt der Pfarrer im Ruhestand seine Einführung schließlich ab.

„Ich denke es steht der Stadt gut zu Gesicht“, meint Kulturamtschef Gerhard  Lambrecht und wünscht sich im Namen der Stadtverwaltung noch viele weitere Erinnerungsmale.


Grußworte von Betty Steinbock werden überbracht

An der Stolpersteinverlegung zu Ehren ihrer ermordeten Eltern kann die heute 89Jährige Betty Steinbock aus Tel Aviv leider nicht persönlich teilnehmen. Als die Grußworte der einzigen Überlebenden der Familie vor ihrem ehemaligen Wohnhaus vorgetragen werden, herrscht unter den Gästen nachdenkliches Schweigen. Die Eheleute Steinbock führten in der Rabestraße 08 (heute Hausnummer 05) ein Geschäft, das bereits im Jahr 1934 arisiert worden ist. Nachdem der Vater Hermann Steinbock im Zuge der Novemberpogrome 1938 von den Nazis verhaftet und in das Lager Buchenwald verschleppt worden ist, musste die Familie die Wohnung 1939 verlassen und in ein so genanntes „Judenhaus“ ziehen. Im Jahr 1942 sind Mutter, Vater und die Tochter Charlotte in das Warschauer Ghetto deportiert worden. Den beiden anderen Kinder, Hans-Martin und Betty, gelang es rechtzeitig nach Palästina auszuwandern.


Stolpersteine für Hermann, Minna und Charlotte Steinbock

Das letzte Lebenszeichen der Familienangehörigen war für Betty Steinbock ein Rot-Kreuz-Brief mit dem zynischen Absender: „Jüdisches Erholungsheim, Gartenstraße, Warschau“. Wo und wann Hermann, Minna und Charlotte Steinbock ums Leben gekommen sind wissen die Angehörigen bis heute nicht. „Ich bin froh, dass Dessau nun endlich meiner Eltern und Schwester gedenkt. Man könnte sagen, sie haben nun endlich einen Grabstein“, wird Betty Steinbock zitiert.


Gymnasiastin mit dem Gedicht "Ein Koffer spricht"

Die Schülerin Judith Antal vom Liborius-Gymnasium singt im Anschluss die rührenden Zeilen des Gedichtes „Ein Koffer spricht“ von Ilse Weber. Die Autorin (1903 - 1944) schrieb bereits mit 14 Jahren jüdische Kindermärchen und kleine Theaterstücke, die in internationalen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden. Nachdem sie 1942 zunächst in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde, kam sie und ihr Sohn Tomàs am 06. Oktober 1944 ins Konzentrationslager Buchenwald. Beide vielen dort der Nazi-Barbarei zum Opfer. Vor ihrem Tod entstanden in den Lagern noch weitere Gedichte, eins davon ist besonders bekannt: „Ich wandre durch Theresienstadt“.


Landesrabbiner Moshe Flomenmann

„Erinnerung ist Voraussetzung für Versöhnung“, so Landesrabbiner Moshe Flomenmann. Mit einem jüdischen Psalm schließt er die erste Station der Stolpersteinverlegung ab.


Pfarrerin der evangelischen Johanniskirche Geertje Perlberg

Wenige Meter weiter in der Poststraße erinnert die Pfarrerin der evangelischen Johanniskirche andächtig daran, dass dies bereits die vierte Stolpersteinverlegung im näheren Umfeld ihrer Kirche ist. Geertje Perlberg gedenkt zusammen mit den Anwesenden und wirft das Gedankenspiel auf, was es für uns heute bedeuten könnte, wenn diese Namen sich noch an den Klingelschildern der Wohnhäuser wiederfinden würden.


zweite Station in der Poststraße

Leiser und Margarete Korn, ein jüdisches Ehepaar, wohnten in der Poststraße 07 (heute Hausnummer 11) . Seit 1929 lebte das Paar, das sich rege am Leben der israelitischen Kultusgemeinde beteiligte, in der Poststraße. Ihre beiden Kinder schickten sie bereits 1933 zur Ausbildung nach Palästina. Leiser Korn wurde von den Nationalsozialisten im Oktober 1938 im Rahmen der „Polen-Aktion“ verhaftet und zur polnischen Grenze abgeschoben. Seine Frau Margarete ereilte im Juni 1939 das gleiche Schicksal. Die beiden wurden Opfer des Holocaust. In der Gegend um die westukrainische Stadt Lemberg (Lwow) verlieren sich im Jahr 1939 ihre letzten Spuren.


Stolpersteine für Leiser und Margarete Korn

Günther Donath erklärt sich vor dem Wohnhaus Moses Mendelssohns in der Askanischen Straße, dass nur  einen Steinwurf vom Standort der einstigen Synagoge entfernt ist, mit der jüdischen Gemeinde der Stadt solidarisch. Die sei in der jüngsten Vergangenheit immer wieder neonazistische Bedrohungen und Schmierereien ausgesetzt gewesen.


Landesrabbiner Moshe Flomenmann mit der jüdischen Gemeinde im Hintergrund

Das polnische Ehepaar Hermann und Gitel Katz lebte schon längere Zeit in Dessau und wohnte im Geburtshaus von Moses Mendelssohn. 1938 wurde Hermann Katz im Zuge der „Polen-Aktion“ verhaftet und abgeschoben. 1939 folgten ihm seine Frau Gitel mit ihrer Tochter Hella. Alle drei wurden später Opfer des Holocaust. Die genauen Umstände ihres Todes sind bis heute nicht bekannt. Den drei Söhnen des Paares, Isi, Josef und Martin, gelang es zwischen 1933 und 1938 nach Palästina zu flüchten.


Stolpersteine für Hermann, Gitel und Hella Katz

Vor der Franzstraße 162 werden von Günther Demnig zwei Stolpersteine für Hugo Jacobi und Hans Heinen in den Gehweg eingelassen. Hugo Jacobi, der aus einer jüdischen Familie stammte, unterhielt bis zu seiner frühen Verhaftung 1933 ein Geschäft für Buchbinder- und Schreibmaschinenarbeiten. Nachdem er in der Revolutionszeit 1918 dem Dessauer Soldatenrat angehörte, wurde er 1920 Vorsitzender der KPD-Ortsgruppe und leitete später die Roten Hilfe. Im Juni 1933 kam er vom Konzentrationslager Roßlau schließlich nach Oranienburg und wurde grausam gefoltert. An den Folgen dieser Misshandlungen verstarb Hugo Jacobi 1935. Er ist auf dem israelitischen Friedhof der Stadt beerdigt. "Als die meisten Dessauer 1932/33 erst Nazis wurden und deren Taten gebilligt haben, saß Jacobi schon im Konzentrationslager", erinnert  der Lokalhistoriker Werner Grossert an eins der ersten Opfer des NS-Terrors.


Lokalhistoriker Werner Grossert in der Franzstraße

Hans Heinen, der aus Elsaß-Lothringen stammte, lebte im selben Haus wie Jacobi zur Untermiete. Ab 1929 war Heinen Mitglied in der KPD und ab 1930 Mitglied im Roten Frontkämpferbund. Von der NS-Justiz ist Hans Heinen mehrfach zu Haftstrafen verurteilt worden. Im Konzentrationslager Sachsenhausen wurde er späterauf Anordnung  Heinrich Himmlers wegen „staatsfeindlichen Verhaltens“ erschossen. „Diese Arbeitsgruppe hat die Ehre von Hans Heinen und Hugo Jacobi wieder hergestellt“, äußert Grossert sichtlich dankbar. Günther Donath schließt an dieser Stelle mit einem jüdischen Sprichwort ab: „Ein Mensch ist erst dann vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“


Stolpersteine für Hugo Jacobi und Hans Heinen

Weiter westlich wird vor dem Wohnhaus in der Heidestraße 147 eine Messingplatte für Erich Köckert in den Gehweg eingelassen. Der Ingenieur, ein bürgerlicher Antifaschist, machte aus seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus keinen Hehl und verweigerte die Mitgliedschaft in der NSDAP. Er wurde am 20. August 1943 in seinem damaligen Wohnhaus verhaftet. Am 26. Oktober 1943 verurteilte ihn der Volksgerichtshof in Berlin wegen „Vorbereitung zum Hochverrat und Defätismus“ zum Tode. Im Zuchthaus Brandenburg wurde Köckert mit dem Fallbeil hingerichtet.


Stolperstein für Erich Köckert

Im Ortsteil Roßlau stehen die Stolperstein-Interessierten vor der Mörikestraße 12. Hier wird Emanuel Reisin, einem ehemaligen russischen Kriegsgefangenen des ersten Weltkrieges, gedacht. Nach der Gefangenschaft blieb er in Deutschland und gründete in Roßlau eine Familie. Emanuel Reisin arbeitete fortan in verschiedenen Betrieben der Region. Im Zuge der „Entjudung“ der deutschen Wirtschaft ist Emanuel Reisin im Oktober 1938 wegen seiner jüdischen Abstammung entlassen worden. Seine Versuche noch 1939 in die USA auszuwandern, scheiterten. Am 11. Januar 1944 wurde Reisin von Magdeburg aus in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Im September des gleichen Jahres kam er auf einen der gefürchteten Transporte in das deutsche Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Sein Todestag sowie die Schicksale seiner nichtjüdischen Frau Margarete und ihrer Tochter Edith sind bis heute ungeklärt.


Stolperstein für Emanuel Reisin

Bereits im Mai 2008 sind in der Stadt 11 Stolpersteine verlegt worden (mehr dazu hier…).

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Projekt GegenPart – Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt