Beratungsprojekte gegen Rechtsextremismus in Anhalt stellen Statistik und Lagebild 2008 vor


sprunghafter Anstieg rechter Gewalt in Dessau-Roßlau / Chronik verzeichnet erneut Allzeithoch seit Einführung der Zählung / Neonazis erweitern lokale Einflusszonen und treten zusehends aggressiver in Erscheinung

Die Entwicklungen in der Region Anhalt sind nach wie vor besorgniserregend. So wurden im vergangenen Jahr von der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt insgesamt 42 rechtsextrem motivierte Gewalttaten regestriert und damit zwei Delikte mehr als im Vergleichszeitraum 2007 (mehr dazu hier...).
Damit bewegen sich die verzeichneten Angriffe auf einem unverändert hohen Niveau. Zudem ist festzustellen, dass sich Dessau-Roßlau mit insgesamt 25 Delikten (60% des erfassten Gesamtaufkommens) zu einem Zentrum rechter Gewalt im Land entwickelt hat. Damit weist die kreisfreie Stadt im Vergleich zum Vorjahreszeitraum eine Verdopplung der Straftaten auf.


rechtsextreme Parole an einer Dessauer Häuserwand

Die vom Projekt gegenPart erstellte Chronik rechtsextremer Straftaten und Propagandadelikten untermauert diesen negativen Trend. Die Statistik weist im Berichtszeitraum insgesamt 220 Ereignislagen aus (mehr dazu hier...). Dies entspricht einer Steigerung um ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr (mehr dazu hier...). Zudem ist es neonazistischen Kameradschaften und der rechtsextremen NPD in den vergangenen 12 Monaten in der Region gelungen, ihre politischen Handlungsfelder auszuweiten, ihre Jugendarbeit zu verstärken und ihre Kampagnenfähigkeit zu erhöhen.

Angriffsstatistik der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt 2008


Von Januar bis Dezember 2008 sind der Dessauer Beratungsstelle für Opfer rechter Straf- und Gewalttaten in der Region Anhalt/Bitterfeld/Wittenberg (OBS) 42 Angriffe mit einem rechten Hintergrund bekannt geworden.

Auf den Zuständigkeitsbereich der Beratungsstelle verteilen sich die 42 Angriffe wie folgt:


Quelle/Graphik: OBS Dessau

Rund 60 Prozent aller Angriffe aus dem Jahr 2008 haben in der Doppelstadt Dessau-Roßlau stattgefunden. Gegenüber dem Jahr 2007 ist dies eine Steigerung von fast 100 Prozent.


Quelle/Graphik: OBS Dessau

Von den 42 Angriffen waren mindestens 58 Personen direkt betroffen, wobei 50 männlichen und 8 weiblichen Geschlechts waren. Den 58 Opfern jeweils einen Straftatbestand zugeordnet, ergibt folgendes Bild:


Quelle/Graphik: OBS Dessau

Die Einteilung der 58 Personen nach Opfergruppen und vermuteter Tatmotivation ergibt folgende grafische Darstellung:




Rechtsextremismus-Monitoring für die Region Anhalt


Die vom Mobilen Beratungsteam (Projekt gegenPart) erstellte Chronik rechter Straftaten, Propagandadelikte und Ereignislagen weist für das Jahr 2008 insgesamt 220* Meldungen auf (Vergleichszeitraum 2007: 166). Das entspricht einer Steigerung um ein Drittel (mehr dazu hier...) und stellt zudem ein absolutes Allzeithoch seit Bestehen der Zählung dar.

Dieser spürbare Anstieg kann vor allem auf verstärkte Aktivitäten der extrem rechten Szene in der Doppelstadt Dessau-Roßlau zurückgeführt werden. So nahmen allein die festgestellten Propgandastraftaten in der Stadt um mehr als 100% zu.
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(*) Das MBT Anhalt hat erstmals Zahlen der Landesregierung (im Ergebnis einer kleinen Anfrage) in die Chronik einfließen lassen. Berücksichtigt sind dabei noch nicht die Straftaten, die die Landesregierung in ihrer Analyse der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK) für das 3. und 4. Quartal 2008 ausweisen wird. Erfahrungsgemäß sind in dieser Statistik zahlreiche Delikte enthalten, von denen die Beratungsprojekte keine Kenntnis erlangt haben. Deshalb wird das Gesamtaufkommen der in dieser Chronik dargestellten Delikte/Ereignislagen noch steigen.

neonazistische Kameradschaften und rechtsextreme Personenzusammenschlüsse

Das regelmäßige Rechtsextremismus-Monitoring des Mobilen Beratungsteams belegt, dass mittlerweile in Sachsen-Anhalt, den angrenzenden Bundesländern und teilweise darüber hinaus kaum noch rechte Aufmärsche ohne Beteiligung von Mitgliedern regionaler Neonazikameradschaften stattfinden (mehr dazu hier) und (hier) und (hier...). Mitglieder der Kameradschaften und deren Sympathisanten sind so mit verschiedenen eigenen Transparenten, einer entsprechenden Gruppenbekleidung und Fahnen zum festen Bestandteil der organisiert verfassten Szene herangewachsen. Dabei knüpfen die rechtsextremen Personenzusammenschlüsse bei diesen Gelegenheiten informelle Kontakte zu anderen Gruppierungen und erweitern damit ihren regionalen und überregionalen Wirkungskreis.


Neonazis aus der Region beim NPD-Sommerfest 2008 in Sangerhausen

Insbesondere in Dessau-Roßlau ist in den letzten 18 Monaten eine dynamische Entwicklung des organisiert verfassten Rechtsextremismus zu verzeichnen. Die Neonazikameradschaft und ihr jugendkulturell geprägtes Umfeld haben sich nicht nur revitalisiert, sondern die Doppelstadt als drittes Oberzentrum in Sachsen-Anhalt, zu ihrer Aktions- und Projektionsfläche gemacht. So führten Rechtsextreme aus der Stadt im vergangenen Jahr insgesamt vier versammlungsrechtliche Veranstaltungen durch, darunter eine Kundgebung am 31. Mai 2008 (mehr dazu hier..), eine weitere Demonstration am 20. September 2008 (mehr dazu hier...) und eine Kundgebung am 29. November 2008 (mehr dazu hier...).


Gleich mehrmals wurde das Alternative Jugendzentrum im Jahr 2008 von Neonazis angegriffen. Dabei entstand insgesamt ein Sachschaden von mehreren Tausend Euro.

Gegenwärtig mobilisieren „Freie Nationallisten aus Dessau und Anhalt-Bitterfeld“ in Zusammenarbeit mit der ehemaligen NPD-Landesvorsitzenden Carola Holz zu einem „Trauermarsch“ am 07. März 2009 (mehr dazu hier...) und werden dabei tatkräftig von anderen rechtsextremen Gruppen, beispielsweise aus dem Salzlandkreis, tatkräftig unterstützt. Dass Neonazis aus der Region Anhalt anstreben, dieses Datum als alljährigen Aufmarschtermin in der Doppelstadt zu verstetigen, liegt dabei auf der Hand. Die Relativierung und Leugnung der Verbrechen des Nationalsozialismus, verbunden mit einer geschichtsverfälschenden Täter-Opfer-Verdrehung, gehört zu einem der wichtigsten konstituierenden Elemente des Rechtsextremismus. Zudem sind solche öffentlichkeitswirksamen Ereignislagen für die Binnenidentität der Szene und damit verbundenen gruppendynamischen Prozesses von immanenter Bedeutung. Gerade hinsichtlich einer angestrebten Event- und Erlebniskultur, mit der Kameradschaften und die NPD zusehens erfolgreicher versuchen Jugendliche für ihre Politikangebote zu interessieren, werden die hiesigen Aktivisten auch zukünftig genau solche Gelegenheiten strategisch nutzen.


mehrere Rechtsextremisten beteiligten sich am 12. November 2008 an einer Kundgebung gegen die Erhöhung von KITA-Gebühren in der Dessauer Innenstadt

Darüber hinaus ist zu beobachten, dass offensichtlich versucht wird, lokalen Einflusszonen zu erweitern und neue Handlungsfelder zu erschließen. Bekennende Neonazis die eindeutig als Rechtsextremisten zu erkennen sind, besuchen so in provokativer Absicht immer häufiger gastronomische Einrichtung im Stadtzentrum (mehr dazu hier...). Selbstsicher stören sie Bildungsveranstaltungen (mehr dazu hier...) oder nehmen an einer Kundgebung teil, die sich gegen die Erhöhung von KITA-Gebühren ausspricht (mehr dazu hier...).


rund 300 Neonazis marschierten am 20. September 2008 durch die Dessauer Innenstadt

Im Zuge dieses Trends ist es beispielweise der Dessauer Neonazikameradschaften erstmals seit Jahren gelungen, jugendlichen Nachwuchs zu rekrutieren und damit ihre lokale Kampagnen- und Handlungsfähigkeit spürbar zu erhöhen. So nahmen an einem gewalttätigen Überfall auf das Alternative Jugendzentrum der Stadt am 19. Januar 2009 zahlreiche sehr junge Täter (14-20 Jahre) teil (mehr dazu hier...), die zumindest über informelle Kontakte zu einschlägigen rechten Aktivisten verfügen. Gerade dieser Fall zeigt, dass Neonazis offensichtlich gezielt und mit Erfolg Einfluss auf jugendliche Cliquenzusammenhänge ausüben, wofür die wiederholte aktive Beteiligung vermeintlich unpolitischer oder diffus rechtsorientierter Jugendlicher an Straftaten ein Beleg ist.

Die NPD und ihre enge Zusammenarbeit mit gewalttätigen Neonazis

Die bereits enge Zusammenarbeit zwischen den Kameradschaften der Region und der NPD/JN hat sich nochmals verstärkt und professionalisiert (mehr dazu hier...).

So meldeten bespielsweise der NPD-Geschäftsführer des Kreisverbandes Wolfen-Anhalt-Dessau, Swen Behrend, sowie die ehemalige NPD-Landesvorsitzende Carola Holz Kundgebungen und Demonstrationen an, die vorrangig vom Spektrum der „Freien Nationalisten“ beworben und besucht worden sind. Zwei Mitglieder des Kreisverbandes (Carola Holz / Andreas Köhler) sitzen im Kreistag von Anhalt-Bitterfeld.
Nach dem öffentlichkeitswirksamen Rücktritt von Carola Holz und weiteren sechs Mitgliedern aus dem Landesverband der neonazistischen Partei im September 2008, ist ihre Rolle im landesweiten Parteiapparat derzeit unklar. Während sich der Landesverband scheinbar reorganisiert hat, setzt die Rechtsextremistin Carola Holz mehr denn je auf die Zusammenarbeit mit den gewaltbereiten Neonazis der „Freien Kräfte“.


die rechtsextreme Aktivist Carola Holz auf einer illegalen Neonaziveranstaltung am 16. August 2008 in Tschechien

Eine nicht zu unterschätzende operativ-strategische Bedeutung kommt nach wie vor der JN-Bundesgeschäftsstelle (JN- Junge Nationaldemokraten; Jugendorganisation der NPD) in Bernburg zu. Dieser rechtsextremen Standort in der Region wurde erst kürzlich durch die Verlegung der NPD-Landesgeschäftsstelle Sachsen-Anhalt zusätzlich aufgewertet (mehr dazu hier...) und (hier...).

Resümee und Ausblick

Es ist zu konstatieren, dass sich rechtsextreme Strukturen in der Region Anhalt / Dessau / Wittenberg nicht nur verfestigt haben, sondern es den Neonazis aus dem Kameradschaftsspektrum im Schulterschluss mit der NPD zugleich gelungen ist, ihre Kampagnenfähigkeit auszubauen. Gerade die dynamischen Entwicklungen in der Doppelstadt Dessau-Roßlar zeigen dies auf brisante Weise.

Sollte die demokratische Zivilgesellschaft in enger Abstimmung mit kommunalen Verwaltungen und politischen Verantwortungsträgern diesem Trend nicht offensiv und entschlossen entgegentreten besteht die Gefahr, dass es dem parteipolitisch und jugendkulturell verfassten Rechtsextremismus in der Region noch wirkungsmächtiger gelingt, Einflusszonen zu erweitern und mit sozialpopulistischen, rassistischen und menschenfeindlichen Politikansätzen noch erfolgreicher als bisher an bereits bestehende Vorurteile und Stereotype in der Mehrheitsgesellschaft anzudocken.

Infos/Kontakt:















 

Projekt GegenPart – Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt