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„Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Künstlerin für den Frieden“

Lesung und Gespräch mit Esther Bejarano und Co-Autorin Birgit Gärtner




Der Beginn der Veranstaltung am 26.Oktober 2005 im Alternativen Jugendzentrum Dessau im Rahmen der Gesprächsreihe mit jüdischen Überlebenden des Holocaust „Zeugnis ablegen bis zum letzten Tag“ verzögerte sich, denn es kamen so viele Besucher, dass immer mehr Stühle geholt werden mussten und das Publikum zusammen rutschte.
40 Zuhörer im Alter von 14 bis über 80 Jahren blickten gespannt auf Esther Bejarano, die mit ihrer Co-Autorin, der Journalistin Birgit Gärtner, auf Einladung des AJZ nach Dessau gekommen war, um über ihr Überleben in Auschwitz und Ravensbrück und das Weiterleben zu berichten.


50 Gäste verfolgten das Zeitzeuginnengespräch und die Lesung

Einleitend berichtete Birgit Gärtner wie die Idee zu dem 2004 erschienen Buch „Wir leben trotzdem. Esther Bejarano – vom Mädchenorchester zur Künstlerin für den Frieden“ entstand. Es existierte bereits eine Broschüre unter dem Titel „Man nannte mich Krümel“, die speziell als Unterrichtsmaterial gedacht war und auf Esthers Aufzeichnungen ihrer Erinnerungen an den Holocaust aus den 70er Jahren basierte. Die Idee war es, die Biografie bis in die Gegenwart fortzuschreiben. „Wir fanden es auch wichtig, dieses Buch zu schreiben, weil im Allgemeinen, übrigens auch linke Geschichte, Geschichte die Geschichte von Männern für Männer über Männer ist. Wir fanden es gut, dem ein bisschen Frauenpower entgegenzusetzen.“, so Birgit Gärtner.

Esthers Biografie mit historischen Informationen bis hin zu jüngsten politischen Entwicklungen anzureichern ist den beiden Frauen hervorragend gelungen. Der Leser gewinnt das Bild einer Frau, die wahrlich Power hat, sowohl die Künstlerin als auch die Politikerin.



B
irgit Gärtner berichtete zunächst in groben Zügen von Esthers Kindheit. Esther Loewy, so ihr Mädchenname, wurde am 15.12.1924 in Saarlouis geboren. Sie hatte zwei ältere Schwestern und einen Bruder. Ein Jahr später zog die Familie nach Saarbrücken, wo der Vater eine Stelle als Oberkantor der jüdischen Gemeinde antrat. Am 1.März 1935, die Saarländer hatten sich zuvor für eine Angliederung an das Deutsche Reich entschieden, fuhr Adolf Hitler unter großem Jubel in Saarbrücken ein. Im gleichen Jahr traten die „Nürnberger Gesetze“ in Kraft. Durch die Auswanderungswelle schrumpfte die jüdische Gemeinde in Saarbrücken, so dass die Familie Anfang 1936 nach Ulm zog, wo der Vater nun in der jüdischen Gemeinde wirkte. Die Eltern beschlossen die Auswanderung der beiden älteren Geschwister: Gerhard ging zu einer Tante in die USA, Tosca nach Palästina.
 
In der Pogromnacht wurde der Vater wie so viele andere jüdische Männer verhaftet und ins Zuchthaus nach Augsburg gebracht. Die meisten kamen von dort in das Konzentrationslager Dachau. Esthers Vater wurde aus dem Zuchthaus wieder entlassen. 

Ende 1939 zogen die Eltern nach Breslau. Esther ging in ein Palästina-Ausbildungslager nach Ahrensdorf. Von dort kam sie im Juni 1942 in ein Zwangsarbeitslager nach Neuendorf. Am 20.April 1943 musste sie schließlich die Reise in die Hölle antreten.

Nun liest Esther aus ihrem Buch die Passagen über den Transport und die Ankunft in Auschwitz.“…Ich bekam die Nummer 41948. Namen waren damit abgeschafft, wir waren nur noch Nummern…“ Sie berichtet über die physisch schwere Arbeit, der sie mit Sicherheit nicht lange gewachsen gewesen wäre. „…Eines Tages suchte die Dirigentin Tschaikowska auf Befehl der SS Musikerinnen für das sogenannte Mädchenorchester. Die Blockältesten schlugen Hilde Grünbaum, Sylvia Wagenberg und Esther vor…“ Die drei Mädchen bestanden den Test und waren nun Funktionshäftlinge, die unter besseren Bedingungen als einfache Häftlinge lebten.

Ein halbes Jahr musste Esther im Mädchenorchester von Auschwitz musizieren, wenn die Arbeitskolonnen zur Arbeit getrieben wurden oder erschöpft zurückkehrten und wenn die Züge mit jüdischen Menschen, von denen die meisten sofort in den Gaskammern ermordet wurden, eintrafen. Das Kapitel im Buch heißt „Begleitmusik zum Massenmord“. Dann kam sie nach Ravensbrück und musste dort für Siemens arbeiten. Esther arbeitete mit Ukrainerinnen zusammen. Wenn die Möglichkeit bestand, verübten sie Sabotage an den Teilen für Unterseeboote, die sie produzieren mussten. Dies war ihr Beitrag zur Verzögerung der Kriegsproduktion.

Schließlich wurde Esther zum Kriegsende auf den Todesmarsch getrieben. Im KZ Melchow traf sie einige ihrer Freundinnen wieder. „…Wir gingen zu siebt in einer Reihe: Irmgard, Mirjam, Schoschana, Anni, Sylvia, Karla und ich. Diese Mädchen waren alle mit mir nach Auschwitz gekommen, wir waren alle aus der Neuendorfer Gruppe. Welche Freude, dass wir uns hier wieder trafen und gemeinsam der Freiheit entgegen gehen konnten...“

Gemeinsam ergriffen die Mädchen die Flucht vom Todesmarsch und begegneten schließlich amerikanischen Soldaten.

Esther beendet die Lesung, blickt in das Publikum und merkt an: „Ich sage immer das war meine Befreiung, aber auch meine zweite Geburt.“

Birgit Gärtner umriss in groben Zügen den weiteren Lebensweg. Die sieben Freundinnen blieben zunächst zusammen. Größtenteils zu Fuß gelangten sie nach Bergen Belsen, wo Listen mit Überlebenden aushingen. Keine der jungen Frauen fand auf diesen Listen überlebende Angehörige. Esther ging mit ihrer Freundin Mirjam in das Übergangslager „Kibbuz Buchenwald“ in Gehringshof bei Frankfurt am Main in der Hoffnung auf eine schnelle Auswanderung nach Palästina.

Am 15.September 1945 kam Esther in Haifa an, nach acht Jahren der Trennung umarmten ihre Schwester Tosca und sie sich wieder. Esther absolvierte eine  künstlerische Ausbildung, lernte ihren zukünftigen Mann Nissim Bejarano kennen. Ihre Kinder Edna und Joram kamen zur Welt. Esther vertrug das Klima nicht, die Ärzte rieten ihr nach Europa zu gehen. Nissim hatte zudem als Pazifist große Probleme, ständig zur Armee eingezogen zu werden. Wohin aber sollten sie gehen? Esther besaß die deutsche Staatsbürgerschaft, aber sollten sie in das Land der Täter gehen? Bekannte aus Hamburg rieten ihnen, dorthin zu kommen. 1960 kehrte Esther mit ihrer Familie nach Hamburg zurück. Später eröffnet sie eine Boutique, vor der 1978 die NPD einen Infostand aufbaut. Gegendemonstranten wurden von der Polizei drangsaliert. Esther ist schockiert. Birgit Gärtner formuliert es im Buch wie folgt: „…Diese Konfrontation war die Geburtsstunde der Politikerin Esther Bejarano…“


Esther Bejarano und Jana Müller (AJZ e. V.)

Sie trat in die VVN-BdA ein und gründete mit anderen Überlebenden 1986 das Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik. Mit ihren Kindern und anderen Künstlern setzt sie sich auch als Künstlerin in der Gruppe „Coincidence“ für Frieden und Völkerverständigung ein.

Im April 1999 erlitt sie den großen Verlust ihres geliebten Mannes Nissim.

Unermüdlich engagiert sich Esther für den Erhalt der Erinnerung an die Naziverbrechen und gegen Aktivitäten der Neonazis. Als am 31.Januar 2004 tausend Neonazis gegen die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ in Hamburg aufmarschierten, hieß die Hauptrednerin der Gegendemonstranten Esther Bejarano. Die reichlich anwesende Polizei „beschäftigte“ sich wie so oft mit den Gegendemonstranten. Birgit liest die Passage aus dem Buch: „…Ohne jegliche Vorwarnung kamen Wasserwerfer und Schlagstöcke zum Einsatz. Esther, die gerade zu ihrer Rede ansetzen wollte, forderte die Polizei über Mikro auf, den Beschuss durch die Wasserwerfer sofort zu stoppen…Dieser Appell wurde mit der Beschlagnahme des Stromaggregats der Lautsprecheranlage beantwortet. Nachdem ihr der Saft abgedreht wurde, musste sie längere Zeit in dem Kleinbus verbringen, der auf der einen Seite von der Polizei eingekesselt war und auf der anderen von dem Wasserstrahl bombardiert wurde…“ Ein Beamter der Einsatzleitung erklärte Esther später, er würde nur Befehle ausführen. „Das habe ich schon mal gehört…Diese Haltung hat am Ende zigmillionen Menschen das Leben gekostet.“, antwortete sie ihm.


Esther Bejarano am Info- und Mahnpunkt Zyklon B in Dessau

Damit hat die Lesung einen erschreckenden Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart gezogen. Die Überlebende, Künstlerin und Politikerin Esther Bejarano weist uns den Weg zur Wachsamkeit und ermutigt uns mit ihrem Kampf, zu handeln heute und in Zukunft, bevor es zu spät ist.

Das Publikum ist sichtlich ergriffen nach der Lesung, hat alles mit größter Aufmerksamkeit verfolgt und nutzt nun die Möglichkeit, Fragen zustellen.

Werner Grossert, der seit vielen Jahren jüdisches Leben und Leiden in Dessau dem Vergessen entreißt, wendet das Wort an Esther: „Den Namen Esther Bejarano kennen wir schon länger. Als dann Ihr Buch erschien, freuten wir uns, dass Ihr Leben dargestellt ist. Als wir das lasen, sagte ich, diese Frau müsste man mal sehen und hören und ihr müsste man die Hochachtung aussprechen. Es freut mich, dass Sie heute hier sind!“

Mehrfach berichtet Esther in ihrem Buch von Sylvia und Karla Wagenberg. Mit Sylvia musste sie gemeinsam im Mädchenorchester von Auschwitz spielen. Nun erfährt sie von Werner Grossert, dass die beiden Dessauerinnen waren.

Sylvia war ein bildschönes Mädchen, Karla würde man heute sagen vollschlank. Zwei wunderbare, gute Frauen.“, erinnert sich Esther und versucht zu erklären, worin die psychische Qual bestand, an diesem Ort des Massenmordes, in einem Orchester zu musizieren. Die für die Gaskammer bestimmten Menschen, bei deren Ankunft sie Musik machen musste, sollten den Eindruck gewinnen, dass es an einem Ort, wo Musik gespielt wird, „nicht so schlimm sein könne“. Die Musikerinnen plagte ein schlechtes Gewissen, obwohl die bewaffneten SS-Männer sie doch dazu zwangen. „Wir haben mit Tränen in den Augen da gestanden und gespielt.“

Seit Kriegsende und das bis heute (mit der Gruppe „Coincidence“)  nimmt die Musik einen völlig anderen Stellenwert für Esther ein: „Musik hat mir geholfen, einen bestimmten Zweck zu verfolgen. Ich wollte, dass die Menschen wissen, was damals passiert ist. Wenn man das mit Musik macht, hat man die Chance, nicht nur Gleichgesinnte zu gewinnen, sondern auch Menschen, die nicht so genau Bescheid wissen. Und das ist uns zum großen Teil auch gelungen.“                                    
                  
Auf die Frage nach Entschädigung erwiderte Esther: „Niemand kann wiedergutmachen, dass meine Eltern und meine Schwester erschossen wurden.“ Für eineinhalb Jahre Zwangsarbeit bei Siemens hat sie einmal 1200 DM und einmal 1000 DM erhalten. Siemens habe diese Zahlungen, die lediglich an Überlebende mit deutscher Staatsbürgerschaft gezahlt wurden, dann vorgeschoben, um  nicht in den Zwangsarbeiterfonds einzahlen zu müssen.

Auf die Frage, woher sie die Kraft nimmt, bis heute zu singen, antwortet Esther mit einem Lächeln: „Ich habe keine Ahnung. Ich habe diese Kraft einfach. Zum Glück noch!“


Esther Bejarano erhält vom AJZ Dessau ein kleines Andenken

Von dieser Kraft konnte sich dann auch das Publikum, zumindest auf der Leinwand, überzeugen. Das AJZ hatte ein Konzert, das im April zum 60.Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück stattgefunden hatte, mitgeschnitten. Mit Ausschnitten aus diesem Konzert, bei denen das Publikum der Lesung in den Applaus des Publikums auf der Leinwand einfiel, endete ein bewegender Abend.

Möge die kleine „Krümel“ ihre große Kraft bewahren! 

Infos/Kontakt:
Alternatives Jugendzentrum e. V. Dessau
Jana Müller
Schlachthofstr. 25
06844 Dessau
Tel.: 0340/ 26 60 21 9
e-mail: ajz-dessau@web.de       
   

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