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„Die Sache ist beschämend wenig erforscht“

Buchpremiere „Antisemitismus in Dessau“




Mit rund 40 Gästen war die Buchpremiere, mit dem Titel „Antisemitismus in Dessau – Eine Spurensuche in den Jahren 1924-1939“ am 17. Juni 2004 im Dessauer Galeriecafe, nicht nur äußerst gut besucht, sondern war für die meisten Anwesenden informativ und mit zum Teil kaum bekannten Fakten zu Dessaus brauner Vergangenheit gespickt. Der Autor und Referent, Dr. Bernd Ulbrich, hat im Rahmen eines halbjährigen Projektes geforscht und recherchiert und als Ergebnis nun diese einmalige Publikation vorgelegt.

Zu Beginn seines Vortrages brachte Ulbrich das große Manko der Lokalhistorie zu diesem Themenkomplex kurz und prägnant auf den Punkt: „Die Sache ist beschämend wenig erforscht“.
Er stellte auch klar, dass das vorliegende Buch nur ein Anfang sein könne. Das Ende der jüdischen Geschichte in Dessau, also die Deportation der Juden in die deutschen Vernichtungslager, war nicht Thema der Untersuchungen.
Allgemein, so Ulbrich weiter, sei das Bewusstsein in der Muldestadt, was die nationalsozialistische Ära Dessaus anbelange, nicht sonderlich ausgeprägt: „Da ist wirklich nicht viel.“

Das Buch Ulbrichs fußte einerseits auf bereits publizierte Sekundärliteratur, explizit nannte er die Arbeiten von Werner Grossert und Veröffentlichungen der Moses-Mendelssohn-Gesellschaft, und andererseits auf der Recherche im Dessauer Stadtarchiv und in der Landesbücherei.
Ulbrichs Referat mit historischen Bezügen servierte einige Statistiken, die auch im regionalen Kontext noch einmal endrucksvoll nachweisen, wie wahnwitzig und komplett irrational der eliminatorische Antisemitismus der Nazis und ihre pathologische Angst vor allem Jüdischen tatsächlich war.
Eine offizielle amtliche Zählung vom April 1933, basierend auf eine Erhebung aus dem Jahr 1925 bezüglich der EinwohnerInnenzahlen in Anhalt, wiesen eine Gesamtbevölkerungszahl von 351.000 Personen auf. Davon waren 1.140 jüdischen Glaubens. Das entspricht einem Anteil von unter 0,5 %.  In Dessau lebten zu dieser Zeit 73.000 Menschen, darunter 399 Juden (ca. 0,6 %). In Bernburg lebten unter 34.000 EinwohnerInnen insgesamt 206 Juden (ca. 0,6 %) und in Köthen betrug der jüdische Bevölkerungsanteil ca. 0,8 %.
Im gesamten Deutschen Reich lebten 1910 insgesamt 615.000 Juden und 1933 ca. 500.000 (entspricht einem Anteil von unter 1 %).
In den 1920iger und 1930iger Jahren waren die Zentren des Judentums neben Polen und dem westlichen Teil der Sowjetunion (SU), vor allem die USA. Dort betrug der Anteil an der Gesamtbevölkerung immer hin 12% (Polen), 3,5 % (SU) und 3,0 % (USA).
Deutschland, so schlussfolgerte Ulbrich schließlich, war also nie ein Zentrum des Judentums.
Einer der Kulminierungspunkte für antisemitische Hetze und Propaganda war der so genannte Kristallpalast, der heute noch als Ruine in der Zerbster Strasse existiert. Bereits 1924 hielt der Weltkriegsveteran und Teilnehmer am Hitlerputsch in München (1923), General Erich Ludendorff, dort vor ca. 2000 ZuhörerInnen eine Rede. Ludendorffs Popularität in radikal- völkischen Kreisen sorgte dafür, dass der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt war. Ludendorff bediente in seiner Propaganda, die durch antisemitische Stereotype und Schmähungen gekennzeichnet war, genau jene völkisch-nationalistischen Kreise, die sich auch in Anhalt seit Jahren fest etabliert hatten.
Der organisierte Antisemitismus in Dessau ist aber noch viel älter und mit der Gründung einer Ortsgruppe des „Deutschen Reformvereines“ im Jahre 1891, ziemlich genau zu datieren. Diese Vereinigung warb bereits Jahrzehnte vor den Nationalsozialisten in den lokalen Medien mit Anzeigen, die ausdrücklich darauf hinwiesen: „Juden haben keinen Zutritt.“
Der Reformverein rekrutierte sich maßgeblich aus Mittelständlern und stand in Dessau lange Zeit unter der Führung des bekannten Automobilbau-Pioniers Friedrich Lutzmann.
Im Jahre 1923 gründete sich in Halle/Saale die paramilitärisch ausgerichtete und antisemitisch orientierte Gruppe „Wehrwolf“ (WW). Auch für Dessau und für den heutigen Landkreis Köthen (Prosigk) sind entsprechende Zusammenkünfte und Aktivitäten der Organisation belegbar. Der WW stellte zweifellos einen der wichtigsten Bausteine der antisemitischen Infrastruktur in der gesamten Region dar.
Als der informelle Treffpunkt in Dessau für antisemitische Aktivitäten schlecht hin, fungierte die Gaststätte „Schwarzer Adler“ in der Steinstrasse. Die Kneipe war Stammlokal der Dessauer Ortsgruppe des Deutschen Handlungsgehilfen-Verbandes (DHV), einer reichsweite Gewerkschaft für Kaufmännische Angestellte. Der DHV verstand sich per Selbstdefinition als „völkischer und nationaler Kampfbund“ mit dem Ziel, die Juden als wirtschaftliche Konkurrenten auszuschalten. Konsequenterweise wurde schon im Gründungspapier des antisemitischen Verbandes fixiert, dass Juden unmöglich Mitglieder werden könnten. Der eigene Verlag des DHV trat zu dem als Publikationsplattform für antisemitische Veröffentlichungen und Unterstützer judenfeindlicher Veranstaltungen überregional in Erscheinung.  
Im Lokal „Drei Kronen“ gründete sich zudem im September 1923, anfänglich aus gerade einmal 5 Mitgliedern bestehend, die Dessauer Ortsgruppe der NSDAP. Ende der 1920iger Jahre war der Kristallpalast mit seiner Kapazität von 2000 Leuten gerade noch groß genug, um bei Saalveranstaltungen der örtlichen Nazipartei ausreichend zu sein.
Das Dessau für die Nationalsozialisten nicht irgendein unbedeutender Fleck auf der Landkarte war, zeigen zahllose Veranstaltungen im Kristallpalast mit hochrangigen Funktionären innerhalb der Parteihierarchie.
1928 sind u. a. Gregor Strasser (SA-Führer) und Fritz Sauckel (später Gauleiter in Thüringen und Reichsbevollmächtigter für die Fremdarbeiter) im Kristallpalast zugegen. Im darauf folgenden Jahr kommen der spätere Reichskirchenminister Hanns Kerrl und der Gauleiter Groß-Münchens, Adolf Wagner, nach Dessau. Anfang Januar 1930 war der spätere Leiter der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, zu hören. Am 05. Februar 1930 trat der kommende Reichspropagandaminister, Joseph Goebbels, vor einem überfüllten Saal auf. Und am 31. Oktober 1931 schließlich, just am Vorabend der anstehenden anhaltischen Kommunalwahlen, nahm Adolf Hitler stehende Ovationen in Empfang. Hitler sprach am 23. Juli 1932 nochmals in Dessau, diesmal allerdings unter freien Himmel. Der Kristallpalast reichte für die Zigtausenden von Nazianhänger in Dessau längst nicht mehr aus.
Ulbrich ging in seinem Vortrag insbesondere auch der Frage auf den Grund, warum Dessau sich trotz mangelnder Infrastruktur und einer recht ungünstigen geographischen Lage, vor 1933, aber auch danach, zu einem bedeutenden ideologischen und verwaltungstechnischen Zentrum der Nationalsozialisten entwickelte.
Warum wurde Dessau Gauhauptstadt, wo doch der Gau „Magdeburg-Anhalt“ hieß? Warum war Dessau Sitz eines Reichsstadthalters?
Ulbrich brachte einige erklärende Argumente vor, die hier nur kurz angerissen werden können. Die  schon in den 1920iger Jahren gut funktionierenden Strukturen im Bereich des völkischen Nationalismus und des praktizierenden Antisemitismus, war sicherlich eine Voraussetzung. Natürlich kam begünstigend hinzu, dass in Anhalt bereits ab 1932, ähnlich wie in Thüringen, Nazis im Landtag dominant waren. Bei den entsprechenden Wahlen im April 1932 wurde die NSDAP mit 15 Mandanten (vormals gerade 1 Mandat) stärkste Fraktion. 6 der 15 Mandatsträger kamen dabei aus Dessau. Die NSDAP stellte zudem mit Alfred Freyberg den Ministerpräsidenten in einer Koalitionsregierung.
Der politische Nährboden war also bereitet und die dazugehörigen Lobbyisten in der Region konzentriert.
Nicht nur aus ideologischen Erwägungen heraus, sondern vielmehr aus wahltaktischem Kalkül, entschieden sich die Nazis bei der Formulierung eines ihrer Hauptziele im Wahlkampf für die Parole: „Ausrottung der jüdisch-bolschewistischen Bauhaus- und Jazzkultur“. Offensichtlich war dieser Slogan bei den Wahlen mehrheitsfähig, eignete sich hervorragend für die Konstruktion eines greifbaren Feindbildes und hatte zudem einen regionalen Bezug.
Die vorgetragenen Fakten lassen die Interpretation zu, dass insbesondere nach dem Machtantritt der Nazis auf Reichsebene, Dessau als ehemaliger authentischer Ort eines progressiven und weltberühmten Kulturstiles, ganz ziel gerichtet und konzeptionell gewollt zum Nazioberzentrum ausgebaut werden sollte.
Der zweite Gauleiter und Reichsstadthalter in Dessau, Friedrich Wilhelm Loeper, war zu dem ein enger Vertrauter Hitlers und bereits am Putsch in München (1923) aktiv beteiligt. Es ist nicht auszuschließen, dass die übergeordnete Bedeutung Dessaus zum Teil einer persönlichen Präferenz Hitlers an seinen engen Kampfgefährten aus alten Tagen geschuldet war. Solche Gefälligkeiten waren im korrupten politischen System des Nazireiches durch aus an der Tagesordnung.  Zur Beerdigung Loepers im Oktober 1935, war eine Ansammlung von Naziprominenz in Dessau, die in einer solchen Konzentration kaum wieder im III. Reich angetroffen wurde. Hitler persönlich hielt die Grabrede, alle Gauleiter nahmen ebenso an der Zeremonie teil,  wie Goebbels, Heinrich Himmler und hohe Wehrmachtsoffiziere. Die Bedeutung Dessaus für die deutsche Rüstungsindustrie und die räumliche Nähe zum Chemiestandort Wolfen/Bitterfeld sind weitere Faktoren, die nicht zu vernachlässigen sind.
Mit dem Satz: „Wer ein Buch über Antisemitismus schreibt, muss sich zwangsläufig in die Perspektive der Opfer begeben“, kommt Ulbrich dann auf das Schicksal der Dessauer Juden zurück. Am 01. April 1933 erging der erste öffentliche Boykottaufruf gegen jüdische Geschäfte, Arztpraxen und Handwerkerbetriebe. Am 09. November brannte auch in Dessau die Synagoge und der israelitische Friedhof wurde geschändet. Nachdem alle in Dessau verbliebenen Juden in einer Tageszeitung mit Namen und Adressen, ein fast offener Pogromaufruf, veröffentlicht wurden, folgten Plünderungen und Zerstörungen jüdischer Geschäfte.

Kontakt/Infos:
Kolleg für Management und
Gestaltung nachhaltige Entwicklung gGmbH
Dr. Bernd Ulbrich
Humperdinckstr. 16
06844 Dessau

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